In diesem Papier verstehen wir unter Industriepolitik das Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsgefüge, wobei wir zwischen horizontaler und vertikaler Industriepolitik unterscheiden. Horizontale Industriepolitik setzt bewusst auf eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, etwa durch eine Verbesserung der Infrastruktur, des Bildungs-systems oder neuer Handelsabkommen. Im Gegensatz hierzu setzt die vertikale Industriepolitik auf die Förderung einzelner Märkte oder Unternehmen. Auch handelspolitische Instrumente wie Zölle, Einfuhrbeschränkungen oder Ursprungsregeln ( „domestic content rules“) spielen hier eine Rolle. Während wir Maßnahmen aus dem Bereich der horizontalen Industriepolitik begrüßen, sehen wir vertikale Maßnahmen kritisch.
Die Gründe für die Zunahme insbesondere vertikaler industriepolitischer Maßnahmen sind vielschichtig. Zum einem vergrößern aktuelle geopolitische Spannungen den Wunsch nach Resilienz, nationaler Versorgungssicherheit sowie strategischer Souveränität. Auch treten Länder mit konträren Wirtschaftsordnungen (z. B. USA vs. China) verstärkt in einen intensiven Wettbewerb zueinander, um mobiles internationales Kapital zu akquirieren. Schließlich zeigt sich eine Tendenz hin zu einer stärkeren Orientierung der Wirtschafts- und Handelspolitik an gesellschaftlichen Zielen, wie Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit (z. B. grüne Leitmärkte, EU-Taxonomie, etc.).
Im Grunde ähnelt die aktuelle Situation einem klassischen Gefangenendilemma: Prinzipiell wäre es für alle beteiligten Staaten aus wohlfahrtstheoretischer Sicht optimal, am regelgebundenen, freien Welthandel festzuhalten. Da dies aber nicht alle Länder tun, kommt es im neuen Gleichgewicht zu Gegenmaßnahmen. Dadurch entstehen erhebliche, teils unwiederbringliche, Effizienz- und Wohlfahrtsverluste im Vergleich zu einem Zustand, in dem kein Land industriepolitisch eingreifen würde.
Diese Situation ist insofern besorgniserregend, als viele Formen der interventionistischen Wirtschaftspolitik Risiken bergen. Erstens ist Industriepolitik grundsätzlich eine politische Entscheidung. Dadurch besteht die Gefahr, dass industriepolitische Maßnahmen für politische Ziele zweckentfremdet werden, und zwar auf Kosten der Steuerzahler. Die politische Komponente erschwert es zudem, ein erfolglos gefördertes Projekt als solches anzuerkennen und zu beenden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwieweit der Staat über ausreichend Wissen verfügt, um hinsichtlich der Förderung bzw. Zukunftsfähigkeit spezifischer Sektoren sowie Branchen zu entscheiden. Gerade diese Informationsasymmetrien können Fehlallokationen auslösen, die zu Entwertung von Wettbewerbsvorteilen bzw. im schlimmsten Fall Deindustrialisierung führen können. Zweitens besteht die Gefahr, dass einflussreiche und etablierte Unternehmen industriepolitische Maßnahmen zu ihren Gunsten ausschöpfen. In diesem Fall werden insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen benachteiligt, da diese meist nicht über die zeitlichen wie finanziellen Ressourcen verfügen, um für ihre industriepolitischen Interessen zu lobbyieren. Und drittens ist Industriepolitik besonders problematisch, wenn der internationale Handel dadurch beschränkt wird (z.B. durch Friendshoring, Nearshoring, Reshoring oder Insourcing), da dann die Vorteile internationaler Arbeitsteilung ungenutzt bleiben.
Die genannten Risiken lassen sich durch Beispiele aus der Empirie bestätigen, denn bei Betrachtung von Fällen aktiver Industriepolitik zeigt sich eine ernüchternde globale Bilanz. Zahlreichen Beispielen gescheiterter Industriepolitik (siehe Owen 2012 oder Hufbauer und Jung 2021) stehen wenige Beispiele gelungener industriepolitischer Maßnahmen gegenüber (z.B. Südkorea: Heavy Chemical and Industry Drive der Jahre 1973 bis 1979).
Fest steht aber auch: Die gewerbliche Wirtschaft – und hier insbesondere auch der Mittelstand – ist ein wesentlicher Wirtschafts- sowie Wohlstandstreiber unseres Landes. Sie verantwortet einen Großteil des Produktivitätsfortschritts und lässt damit das Lohnniveau anziehen. Gleichzeitig bewirkt sie positive Spillover-Effekte auf den Dienstleistungssektor sowie die Zulieferindustrie und deren Lohnniveaus. Mit einem Anteil von 80 Prozent an den deutschen Exporten ist die Industrie zudem Träger unserer Exportwirtschaft. Gleichzeitig ist die Industrie besonders innovativ und verantwortet überdurchschnittlich viele Ausgaben in Forschung und Entwicklung. Rund 85 Prozent der privatwirtschaftlichen Forschung findet in der Industrie statt, und ein wesentlicher Anteil davon bei den mittelständisch geprägten Unternehmen.
Wie im gesamten Wirtschaftssegment prägen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen den Großteil der industriellen Basis. Von den rund 230.000 Unternehmen im deutschen verarbeitenden Gewerbe (inkl. Kleinbetriebe) sind 98 Prozent kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten; und viele davon sind in ihrem jeweiligen Marktsegment international führend (hidden champions). Aber auch die Handwerksbetriebe – in denen im Jahr 2021 5,4 Mio. Erwerbstätige beschäftigt waren – haben einen wesentlichen Anteil an der Erbringung der Wirtschaftsleistung und sind sowohl unmittelbar als Zulieferbetreibe als auch mittelbar über eine geringere Einkommensdynamik von schädlichen Eingriffen im Namen der Industriepolitik betroffen.
All diese Wirtschaftsbereiche sind aktuell besonders herausgefordert: Eine unsichere Wirtschaftspolitik, hohe Energiepreise, belastende Bürokratie und die zunehmenden interventionistischen Tendenzen weltweit sind nur einige Beispiele, die den unternehmerischen Erfolg stark beeinträchtigen. Daher stellt sich auch im Interesse des deutschen Mittelstandes eine entscheidende Frage: Wie soll die deutsche Wirtschaftspolitik auf den Trend steigender Abschottungstendenzen anderer Länder reagieren; adaptieren oder sich diesem entgegenstellen?
Damit der deutsche Wohlstand in Zeiten zunehmender interventionistischer Wirtschaftspolitik nicht gefährdet wird, fordert die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) eine Wirtschaftspolitik, die sich an den ordnungspolitischen Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft orientiert und für freie Märkte einsetzt, ohne dabei blind zu sein gegenüber anderweitigen Bestrebungen, die unsere industrielle Basis gefährden könnten:
- Die Bundesregierung muss sich den globalen Abschottungstendenzen entgegenstellen und stärker als bisher für den Erhalt einer regelbasierten Weltwirtschaftsordnung eintreten. Dazu gehört, dass die Welthandelsorganisation (WTO) – und insbesondere auch das Streitbeilegungsgremium (Dispute Settlement Body) - in der aktuellen Situation gestärkt, nicht geschwächt wird. Hier gilt es, mit gutem Beispiel voranzugehen. Denn die Forcierung industriepolitischer Eingriffe macht im Ergebnis alle Länder ärmer und die Welt gleichzeitig ungleicher. Leidtragende sind nicht nur die Industrieländer, sondern gerade auch die Länder im Aufholprozess.
- Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands muss wieder gestärkt werden, um der zunehmenden Abwanderung von Unternehmen ins Ausland entgegenzutreten. Hierbei setzen wir uns für eine horizontale Industriepolitik ein, d.h. Aufgabe der Bundesregierung muss es (wieder) sein, die Rahmenbedingungen im Land zu verbessern. Anstatt einzelne Unternehmen oder Branchen selektiv zu fördern, gilt es die Standortbedingungen für die gesamte industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu verbessern. Hierzu gehört u.a. der Abbau überbordender Bürokratie, der technologieoffene Ausbau des Energieangebots, das Einführen steuerlicher Anreize für Innovationen, Investitionen in Bildung und Forschung oder der Abbau der Sozialabgabenquote. Auch müssen Anreize zur Arbeitsaufnahme, die durch die Einführung des Bürgergelds signifikant geschwächt wurden, wieder gestärkt werden. Wir sind überzeugt: Die deutsche Industrie leidet aktuell mehr unter den schwierigen Standortbedingungen im eigenen Land als unter den industriepolitischen Maßnahmen anderer Länder.
- Aufgrund der hohen Exportabhängigkeit der deutschen Industrie und der zunehmenden geoökonomischen Fragmentierung der Märkte brauchen Deutschland und Europa neue Handelsabkommen, denn freier Handel stellt alle Beteiligten besser. In diesem Zusammenhang treten wir für eine strikte Trennung von handelspolitischen Zielen auf der einen und umwelt- bzw. sozialpolitischen Zielen auf der anderen Seite ein. Eine „wertegeleitete“ Handelspolitik lehnen wir ab und fordern stattdessen, mit diplomatischen und entwicklungspolitischen Mitteln auf die Erreichung von übergeordneten Zielen hinzuwirken.
- Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Resilienz ist in Zeiten geopolitischer Fragmentierung und Blockbildungen ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel. Sie ist aber zuvorderst Aufgabe der Unternehmen selbst, denn diese kennen ihr Geschäftsmodell sowie ihre Lieferketten am besten. Es braucht hierfür eine stärkere Bewusstseinsbildung im Unternehmenssektor („sense of urgency“), die der Staat mit geeigneten Informationen und der Vereinbarung von Handelsabkommen unterstützen kann. Eine Steigerung der Resilienz mit Hilfe von Dauersubventionen lehnen wir ab, denn zum einen ist es unklar, welche Sektoren gefördert werden sollten. Zum anderen werden damit ineffiziente Allokationsströme von Kapital und Arbeit ausgelöst - unter denen dann oftmals gerade der Mittelstand leidet.
- Die Grundlagenforschung soll gefördert und ausgebaut werden. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse müssen dann allerdings allen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, insbesondere kleinen und mittelständischen Unternehmen. Es braucht hierfür geeignete institutionelle Rahmenbedingungen, die den Zugang zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ermöglichen bzw. erleichtern.
Gezielte Eingriffe in Ausnahmesituationen
In echten und klar definierten Ausnahmesituationen, wie Marktversagen oder wiederholtem Regelbruch anderer Länder, kann industriepolitisches Engagement des Staates gerechtfertigt sein. Hier fordern wir allerdings die Grundregel: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.
- Zum Schutz strategisch relevanter Bereiche, wie bei der nationalen Sicherheit (z. B. Militär, Cyber, Unternehmensspionage) oder bei der Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen medizinischen Produkten (z. B. Schutzkleidung, Antibiotika) sind staatliche Eingriffe gerechtfertigt. Dies kann durch Investitionsprüfung oder sektorübergreifende Prüfverfahren mithilfe des Außenwirtschaftsrechts erfolgen, insbesondere dann, wenn kein Level Playing Field vorliegt (Reziprozität). Hier ist der gesellschaftliche Nutzen durch die Vermeidung von Engpässen höher als die Zusatzkosten durch staatliche Eingriffe.
- Ebenso können industriepolitische Eingriffe angemessen sein zur Übersendung von Signalen an Länder („signaling“), die den freien Wettbewerb massiv behindern bzw. verzerren, bspw. durch Dumping, einseitige Handelsbarrieren oder fehlende Reziprozität. Allerdings müssen diese Verzerrungen nachweisbar sein. Ein Eingreifen aufgrund von komparativen Vorteilen anderer Regionen bzw. selbstverschuldeten Wettbewerbsnachteilen am heimischen Standort ist nicht gerechtfertigt.
- Zur Vermeidung von klimaschädlichen Emissionen ist idealerweise ein global geltender CO2-Preis anzustreben. Statt auf eine massive Zunahme von Berichtsplichten, Regularien oder nationale Alleingänge zu setzen, wird die Bunderegierung aufgefordert, sich im Interesse des Klimas deutlich stärker als bisher für globale Lösungen einzusetzen.
- Gewisse Projekte zur Förderung der Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit können durchaus gerechtfertigt sein, wenn diese nachhaltig und langfristig zum volkswirtschaftlichen Wachstum beitragen, technologieoffen ausgestaltet sind und keine spezifischen Branchen bevorzugen. Bewährte Erfolgsbeispiele sind hier das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) sowie die industrielle Gemeinschaftsforschung die beide insbesondere kleine und mittlere Unternehmen zugute kommen Dennoch müssen solche Industrieprojekte kontinuierlich evaluiert und bei Nicht-Erfüllen der definierten Indikatoren angepasst bzw. eingestellt werden.
- In den wenigen Fällen, in denen der Staat zu Subventionen greift, sollten diese an feste Bedingungen geknüpft und immer zeitlich begrenzt werden. Staatliche Förderung sollte zu einem substanziellen Anteil mit privater Kofinanzierung ausgestattet sein („skin in the game“). Auch müssen industriepolitische Maßnahmen mit einer klaren, regelgebundenen Ausstiegsstrategie verbunden sein, denn staatliches Geld heute führt zu Subventionsforderungen morgen.
- Außerdem sollen staatliche Eingriffe nur dort eingesetzt werden, wo ein intensiver Wettbewerb herrscht. Aus der empirischen Wirtschaftsforschung ist bekannt, dass staatliche Förderung nur dort positive Effekte hervorbringt, wo intensiver Marktwettbewerb stattfindet. Industriepolitik darf nicht dazu führen, dass monopolistische Tendenzen entstehen, verfestigt oder gar verstärkt werden.
Die oben angeführten industriepolitischen Maßnahmen bzw. staatlichen Eingriffe bilden jedoch Ausnahmen. Alle weiteren Instrumente der Industriepolitik lehnen wir als MIT grundsätzlich ab, da die Zusatzkosten durch interventionistische Eingriffe größer sind als der gesellschaftliche Nutzen daraus. Dies gilt insbesondere für folgende Bereiche:
- Wenn Industriepolitik zweckentfremdet bzw. einseitig angewandt wird, um z.B. sonstige politische Ziele bzw. Missionen wie Leitmärkte oder eine wertebasierte Handelspolitik zu erreichen, ist diese nicht gerechtfertigt.
- Insbesondere zur Steigerung der „Marktgängigkeit“ sind Subventionen ein ungeeignetes Instrument. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Produktes zeichnet sich dadurch aus, ob es ohne staatliche Unterstützung marktfähig ist.
- Wir widersprechen damit klar dem Ansatz des Ministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), wonach „Industriepolitik in der Zeitenwende (…) in vielen Fällen auch eine aktive Förderpolitik [erfordert]“ (S. 24).
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