Stagflation vermeiden - Wachstumspotenziale heben [MIT-Präsidium]

Datum des Artikels 09.05.2023
Beschluss

Die deutsche Wirtschaft befindet sich am Scheideweg. War Deutschland vor zwei Jahrzehnten der „kranke Mann“, der sich in den Folgejahren zum Wachstumsmotor Europas entwickelte, droht jetzt erneut eine lange Phase schwachen Trendwachstums bei anhaltend hoher Inflation, kurz Stagflation. Hinter den konjunkturellen Schwankungen verbirgt sich immer deutlicher ein im Trend sinkendes Wachstum, das mit Wohlfahrtsverlusten einhergeht. Die Reallöhne in Deutschland waren 2022 zum dritten Mal in Folge rückläufig – das ist ein Warnsignal. Und vieles spricht dafür, dass die deutsche Wirtschaft auf einen dauerhaft geringeren Wachstumspfad mit einer Potentialrate von deutlich unter einem Prozent einschwenkt.

Die wichtigsten Parameter für die langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft sind Bevölkerungswachstum und Produktivität. In beiden Bereichen schneidet Deutschland außerordentlich schlecht ab. Zum demografischen Niedergang auf der einen Seite kommt eine anhaltende Investitionszurückhaltung, die Produktivitätszuwächse unmöglich macht. Die Dramatik wird verstärkt durch die Energiekrise und geopolitischen Verwerfungen, die unsere außenhandelsorientierte Industrie gefährden.


Doch diese Entwicklungen sind keine unabwendbaren Schicksale. Die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) fordert:


1. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Platzens der demografischen Blase muss das Arbeitskräfteangebot voll ausgeschöpft werden. Hierbei ist der Anreiz zur Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung zu fördern:

 

  • Das Lohnabstandsgebot im Niedriglohnsektor muss wieder stärkere Beachtung finden. Gesetze wie das Bürgergeld weisen in die völlig falsche Richtung; sie verringern die Anreize zur Arbeitsaufnahme bzw. die Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung.
  • Die Höchstarbeitszeit ist pro Woche anstatt pro Tag zu begrenzen.
  • In der Einkommenssteuer ist ein Tarif auf Rädern einzuführen, um Steuerzahler dauerhaft und unmittelbar vor illegitimen Steuererhöhungen durch Inflation zu schützen.
  • Darüber hinaus gilt es, das Potenzial der Erwerbstätigkeit von Frauen zu heben. Die öffentliche und betriebliche Kinderbetreuung muss endlich gewährleistet werden. Gleichzeitig ist der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nach der Elternzeit zu erleichtern und die angemessene Vergütung von Frauen zu fördern.
  • Das Renteneintrittsalter muss flexibler gestaltet werden, um der stetig steigenden Lebenserwartung gerecht zu werden.
  • Auch sind Beschäftigungsmöglichkeiten von Rentnern und Pensionären attraktiver zu gestalten. Hierzu gehört die Stärkung von Hinzuverdienstgrenzen, sodass Rentner Geld in jeglicher Höhe rentenabzugsfrei hinzuverdienen können.
  • Neben dem Heben des inländischen Arbeitskräftepotenzials, gehört ebenso eine geordnete Fachkräftezuwanderung zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik. Hierzu zählen ein schnellerer Erwerb deutscher Sprachkenntnisse sowie eine beschleunigte Anerkennung von passenden Bildungsabschlüssen. Im Sinne einer geordneten Fachkräftezuwanderung bleibt es allerdings bedeutsam, asyl- und erwerbsbezogene Einwanderung nicht in unzuverlässiger Weise zu vermischen. Der Abwanderung qualifizierter Fachkräfte muss entgegengewirkt werden.


2. Der besorgniserregenden Investitionszurückhaltung der deutschen Wirtschaft muss gegengesteuert werden:

  • Zielgenaue finanzpolitische Instrumente, um diesen Missstand zu begegnen sind u. a. verbesserte steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten.
  • Die Bildung von Eigenkapital, die Krisenfestigkeit von Personenunternehmen in Deutschland und eine rechtsformneutrale Besteuerung sind zu stärken. Hierfür sind praxistaugliche Anpassungen bei den Regelungen zur begünstigten Besteuerung einbehaltener Gewinne erforderlich.
  • Gleichzeitig gilt es, den Finanzplatz Deutschland zu stärken, um den Finanzierungszugang insbesondere des Mittelstands zu verbessern. Deshalb ist der in den letzten Jahren bereits stark ausgebaute Regulierungsrahmen nicht weiter auszubauen, um Gewinnentwicklung und Eigenkapitalbasis zu stärken.
  • Zudem muss die Finanzwirtschaft in die Lage versetzt werden, den klimaneutralen Umbau der Gesellschaft zu begleiten. Die Bundesregierung muss sich auf europäischer Ebene stärker dafür einsetzen, dass die Nachhaltigkeitsregulierung mehr die Fortschritte in der CO2-Vermeidung in den Blick nimmt, statt lediglich auf rein grüne Investments zu setzen. Für die Finanzinstitute bedeutet dies, dass eine regulatorische „transition ratio“ einer „green asset ratio“ vorzuziehen ist.

3. Das Wachstum der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) sowie Innovationsfortschritte sind in Deutschland besorgniserregend. Trotz europaweiter Rekorde bei den Patentanmeldungen ist das Aufkommen aus Deutschland um 4,7 Prozent auf den niedrigsten Stand seit mehr als zehn Jahren gesunken.

  • Anreize für Investitionen in F&E sind insbesondere für die mittelständische Wirtschaft zu verbessern.
  • Existenzgründungen müssen stärker unterstützt werden, denn deren Anzahl ist seit Jahren besorgniserregend rückläufig. Wir fordern die Einführung einer Gründerschutzzone mit einer weitgehenden Entlastung von bürokratischen Vorschriften in den ersten beiden Jahren nach einer Gründung, sog. „regulatorische Sandkästen“. Unternehmensgründer und Unternehmensübernehmer sollen in dieser Zeit von Bürokratie wirksam entlastet werden und von Auflagen im Steuer- und Arbeitsrecht, bei Melde- und Statistikpflichten bzw. mindestens von möglichen Bußgeldern bei fahrlässigen Verstößen befreit werden.


4. Vor dem Hintergrund eines erreichten Höchststandes an Bürokratie muss der hohen und weiter steigenden Belastungen entgegen gesteuert werden:

  • In diesem Sinne ist ein Belastungsmoratorium einzuführen, welches jegliche Belastungen für Unternehmen und Beschäftigte in Form von Gesetzen und anderen Regelungen auf europäischer sowie nationaler Ebene auf den Prüfstand stellt und Abhilfemaßnahmen ergreift.
  • Des Weiteren sollte die „One in, one out“-Regel zu einer „One in, two out“-Regel ausgeweitet werden, um einen effektiven Bürokratieabbau voran zu treiben. Insgesamt muss bei Regulierungsfragen wieder folgender Ansatz in den Vordergrund rücken: So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich.

5. Im Anblick der aktuellen Energiekrise ist das inländische Energieangebot zu erhöhen:

  • Hierzu gehört die Hebung heimischer Potentiale (Biomasse, Erdgas) ebenso wie eine Überprüfung der zeitweiligen Wiederinbetriebnahme der drei am 15. April 2023 vom Netz gegangenen Kernkraftwerke.
  • Zudem muss Deutschland sich an Weiterentwicklungen dieser Technologie sowie der Fusionstechnologie beteiligen, sei es in internationalen Forschungsgemeinschaften oder durch entsprechende Angebote in der heimischen Wissenschaft. Sollte es gelingen, die Kernenergie sicherer zu machen und Atommüll zu vermeiden, darf Deutschland als großes Industrieland von dieser Entwicklung nicht abgekoppelt werden.
  • Genehmigungsverfahren im Bereich Erneuerbare Energien müssen beschleunigt, geeignete Freiflächen ausgewiesen und Finanzierungsmodelle entwickelt werden. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien in dem erforderlichen Ausmaß wird aber in jedem Fall viel Zeit erfordern, denn sowohl Fachkräfte als auch Rohstoffe sind knapp.  

6. Sowohl der Russland-Ukraine-Krieg als auch die geopolitische Neupositionierung Chinas unter Staatspräsident Xi, in der auch eine Ausweitung des Taiwan Konflikts wahrscheinlich macht, sprechen für eine sinkende internationale Arbeitsteilung. Deutschland muss seine starke Position im internationalen Wettbewerb erhalten, um im Zeitalter einer stärkeren Regionalisierung des Handels drohende Wohlstandsverluste abzufedern:

  • Um Effizienzverluste zu vermeiden, bedarf es zeitnaher Abschlüsse weiterer Freihandelsabkommen und Rohstoffpartnerschaften.
  • Hierbei ist essenziell, dass neue Handelsabkommen nicht durch eine Vermischung von handels- und allgemeinpolitischen Themen blockiert werden; eine Vermischung, die insbesondere seit dem Regierungswechsel in Berlin immer stärker zu beobachten ist. Das Scheitern des TTIP-Abkommens zwischen der EU und den USA oder das jahrelange Tauziehen um das CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada sind hier mahnende Beispiele. 


7. Die Potenziale der Kreislaufwirtschaft müssen in Deutschland stärker genutzt werden. Durch stärkere Berücksichtigung bei Beschaffungsprozessen der öffentlichen Hand kann die Vorbildwirkung des Staates betont werden. Recycling muss in die Rohstoffversorgung der Wirtschaft einbezogen sein. Eine integrierte Kreislaufwirtschaft vermindert den CO2-Ausstoß, kann Abhängigkeiten von ausländischen Lieferanten verringern helfen, Lieferketten verkürzen und fördert Wachstum in einem starken Bereich der deutschen Umwelttechnik und -dienstleistung.