
Pro: Ein Land in Schieflage
Meine Wahrnehmung nach zwei Jahren Kontaktbeschränkungen, Masken- und Testpflicht sowie Impfdebatte ist, dass dieses Land in einer Schieflage ist: politisch, ethisch und wirtschaftlich. „Bist Du schon geimpft oder geboostert?“ ist die Frage, die in diesen Tagen über den Fortbestand von Freundschaften entscheiden kann.
Schon mehrfach blickte ich in die fassungslosen Gesichter, weil die Oma jetzt nicht mehr zu Besuch kommt, da der Enkel nicht geimpft ist und dies auch nicht vorhat. Ich erlebe einen Weltärztepräsidenten, der sich über die Urteilskraft „kleiner Richterlein“ echauffiert, die es wagen, sich mit ihren Urteilen über politische Verabredungen hinwegzusetzen. Ich erlebe erfahrene Politiker, die Menschen in Geimpfte und Ungeimpfte unterteilen und letzteren das Recht absprechen, in gleichem Maße wie Geimpfte am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Und ich sehe als Mutter, Nachbarin, Freundin und Politikerin, dass jene Menschen, die auf der Straße, in den sozialen Netzwerken oder auch in meiner Sprechstunde protestieren, keine rechtsradikale und unsolidarische Minderheit sind. Es sind unsere Freunde, Nachbarn, Familienmitglieder.
Wir wissen, dass Corona mit der Omikron-Variante trotz hoher Inzidenz bis zu 90 Prozent weniger Hospitalisierungen nach sich zieht. Viele Länder in Europa fahren die Maßnahmen zurück. Weitere Impfstoffalternativen und Medikamente für schwere Verläufe wurden zugelassen. Immer mehr Studien zweifeln am Mehrwert bestehender Maßnahmen. Die seelischen Folgeschäden der Corona-Politik etwa bei Kindern und Jugendlichen sind erheblich. Die Corona-Datenlage entwickelt sich zu einem Skandal. Ob Verstorbene mit oder an Corona verstorben sind, macht für die Statistik keinen Unterschied. Ein unbekannter Impfstatus geht automatisch als ungeimpft in die Statistik ein. Auch bei der Ermittlung der Impfquote wurden Fehler gemacht. Unser Land hat unfassbar hohe Staatshilfen auf den Weg gebracht, um die wirtschaftlichen Schäden einer ganzen Volkswirtschaft abzumildern. Doch Handel, Gastgewerbe, Veranstaltungswesen und viele weitere Branchen brauchen jetzt dringend einen Befreiungsschlag, damit nicht noch mehr Existenzen kaputt gehen. Die Politik ist gut beraten, nicht immer nach neuen Argumenten für Verbote zu suchen. Die Zeit ist reif für unseren Freedom Day.
Jana Schimke (42) ist CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende MIT-Bundesvorsitzende. Die Politologin aus Brandenburg leitet im Bundestag den Tourismusausschuss als Vorsitzende.
Contra: Öffnungsschritte mit Augenmaß
„Leicht verliert man die Geduld, doch schwer die Ungeduld“ – diese Sentenz des Aphoristikers Volkmar Frank trifft nach zwei Jahren der Corona-Pandemie, des Verzichts und der Einschränkungen umso mehr zu. Nunmehr mitten in der vierten Welle schwimmend, umspült von so nie dagewesenen Infektionszahlen und Fällen von Krankenhaus-Einweisungen, verlässt einen schnell die Geduld und die Vorsicht.
Von dieser Ungeduld übermannt, haben Länder wie Dänemark oder Großbritannien schon den „Freedom Day“ ausgerufen. Warum nicht auch bei uns? So ungern wir das auch hören: Wir müssen jetzt noch ein paar Wochen die Zähne zusammenbeißen, uns in Abstand und Geduld üben. Warum sollten wir ausgerechnet jetzt, auf dem Scheitelpunkt der Omikron-Welle, bei täglich über 150.000 neuen Covid-Infizierten, bei einer bundesweiten 7-Tage-Inzidenz von deutlich über 1500, alles, was wir mühsam erreicht haben, über den Haufen werfen und einen Kollaps unseres Gesundheitssystems riskieren, den wir so diszipliniert und so mühselig verhindert haben? Nichts zerstört das Vertrauen in die Politik mehr, als Erleichterungen anzukündigen, dann aber wieder auf dem Verordnungswege einzukassieren, weil einen die Realität eingeholt hat. Vernünftige politische Entscheidungen müssen auf evidenzbasierten Grundlagen und nicht auf ungerechtfertigten Hoffnungen beruhen.
Den uns alle nervenden Teufelskreislauf aus Lockerung – Verschärfung – Lockerung müssen wir endgültig durchbrechen. Die Impfungen vulnerabler Gruppen sind der Schlüssel dazu, unsere Krankenhäuser vor dem Kollaps zu bewahren. Mit Blick auf den nächsten Winter müssen wir nun Regelungen finden, wie wir noch ungeimpfte Menschen auf intelligente und rechtssichere Weise dem Impfschutz zuführen können. Um auf mögliche gefährlichere Covid-Varianten vorbereitet zu sein, benötigen wir ein Impf- bzw. Pandemievorsorgegesetz.
Wir müssen, auch wenn wir es uns anders wünschen, mit Lockerungen bis zum 19. März warten. Das ist der Tag, an dem die geltenden Corona-Regeln auslaufen und der Scheitelpunkt der Omikronwelle überschritten sein wird. Dann können wir unter der nüchternen Betrachtung der dann herrschenden Lage auch mit Blick auf den nahenden Frühling und Sommer Öffnungsschritte wie den Wegfall der 2G-plus-Regel im Einzelhandel, in der Gastronomie oder im Freizeit- und Kulturbereich und anderes wagen.
Stephan Pilsinger (35) ist CSU-Bundestagsabgeordneter und war Co-Vorsitzender der MIT-Gesundheitskommission. Der Arzt aus München ist Mitglied des Gesundheitsausschusses im Bundestag.
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