Wolfgang Schäuble im Interview: „Nur Geld zur Verfügung zu stellen, löst keine Probleme“

Datum des Artikels 21.10.2020
MittelstandsMagazin

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble rät der Politik dazu, nicht den Eindruck zu erwecken, dass unbegrenzt Geld zur Verfügung steht. Im Interview mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben äußert Schäuble zum Teil provokante Thesen zur Zukunft der EU, zur Migration und zur Frauenquote.

Herr Schäuble, Deutschland befindet sich im demokratischen Ausnahmezustand. Viele Rechtsakte geschehen derzeit durch reines Regierungshandeln, für das einmal ein Blankoscheck vom Parlament ausgestellt wurde. Beunruhigt Sie das als oberster Vertreter des Parlaments?

Wolfgang Schäuble: Handeln können immer nur Regierungen, so sind die Regeln der Gewaltenteilung. Und Regierungen müssen in einer solchen Lage, wie wir sie alle in unserem Leben noch nicht erlebt haben, auch schnell handeln können. Es gibt aber keinen Blankoscheck vom Parlament, sondern Ermächtigungen für die Regierung. Den epidemischen Notstand hat der Deutsche Bundestag erklärt, und es ist das Parlament, das die Voraussetzungen dafür prüft. Die Grundrechte waren im Übrigen zu keinem Zeitpunkt ausgesetzt. Sie waren zeitweise empfindlich eingeschränkt, ja! Zum Teil sind sie es noch. Aber alle Maßnahmen, die getroffen wurden, unterlagen immer der Überprüfung durch die Gerichte, und die Regierung wurde vom Parlament kontrolliert. Die noch geltenden Einschränkungen werden fortwährend auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft – von der Bundesregierung, den Landesregierungen und den Parlamenten. Ich lege Wert darauf: Unsere parlamentarische Demokratie war durchgehend voll funktionsfähig. Der Bundestag war übrigens das erste Parlament in Europa, das unter Einhaltung der geltenden Abstandsregeln über alle staatlichen Maßnahmen ausführlich debattiert und Soforthilfen beschlossen hat.

Der nordrhein-westfälische Landtag hat den Ausnahmezustand aber schon im Juni wieder aufgehoben.

Das ist der Föderalismus. Der Bundestag hat die epidemische Notlage im März beschlossen und wird diese Feststellung erst wieder aufheben, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorliegen. Das Parlament befindet darüber, wie es weitergeht. Und hier gibt das aktuelle Infektionsgeschehen keinen Anlass zur Entwarnung.

Während der Corona-Demonstrationen wurde kurzzeitig die Reichstagstreppe erstürmt. Wie reagiert der Bundestag darauf?

Wir haben in Deutschland mehr als 80 Millionen Einwohner. Selbst wenn zehntausend Menschen vor dem Reichstag demonstriert hätten, wäre das nur eine verschwindend kleine Minderheit gewesen. Die Demonstranten kamen ja auch aus sehr unterschiedlichen Motiven zusammen. Dieser Vorfall war dennoch nicht in Ordnung. Nazi-ähnliche Symbole auf der Treppe des Reichstags gehen unter keinem denkbaren Umstand. „Sturm auf den Reichstag“ ist eine Parole, die unerträglich ist – auch wenn ich gleich hinzufüge, dass wir es nicht ganz so aufgeregt aufnehmen sollten. Das Reichstagsgebäude war nicht in Gefahr. Aber so etwas darf sich nicht wiederholen. Der Bundestag verfügt zwar über eine eigene Bundestagspolizei, die ist aber nur innerhalb der Gebäude zuständig. Deswegen habe ich mit dem Bundesinnenminister und dem Berliner Innensenator gesprochen, dass die notwendigen polizeilichen Maßnahmen in der Zukunft dafür sorgen, dass sich das auch nicht wiederholen wird.

Sind Sie denn für bauliche Veränderungen im Umfeld?

Es gibt dazu seit langem Pläne, auch um von den provisorischen Lösungen mit Gittern und Containern wegzukommen. Dazu gehört ein Graben, der den visuellen Eindruck des Reichstags nicht beeinträchtigt, wie das mit den derzeitigen Absperrungen der Fall ist, und der dem Denkmalschutz gerecht wird. Der Graben ist aber keine Reaktion auf diesen Vorfall, sondern ist schon lange im Zusammenhang mit dem künftigen Besucherinformationszentrum geplant.

 

Unter anderem Jens Spahn hat gesagt, dass der Lockdown im Rückblick zu lang war. War am Ende der Schaden durch den Lockdown größer als der Schaden, der durch Corona entstanden wäre?

Deutschland hat vergleichsweise schnell auf die Krise reagiert. Denken Sie an die Bilder von Bergamo oder die überlasteten Krankenhäuser in anderen europäischen Ländern. Was wollte man denn in der Situation machen? Im Nachgang sieht man vieles anders. Die Entwicklung zu Jahresbeginn war rasant. Wir mussten schnell handeln. Und der Erfolg gibt uns Recht: Wir sind bis jetzt im Vergleich zu anderen Ländern besser durch die Krise gekommen, und wir sind inzwischen auch besser vorbereitet. Denn über den Berg sind wir nicht. Entwicklungen in anderen Ländern zeigen: Es kann noch schlimmer kommen. Deshalb sollten wir jetzt nicht leichtfertig werden.

Der Ökonom Bernd Raffelhüschen hat im vergangenen Mittelstandsmagazin (4-20) vorgerechnet, dass durch den Lockdown deutlich mehr Lebensjahre verlorengehen werden als ohne.

Bei allem Respekt: Solche Berechnungen sind immer künstlich. Im Übrigen haben wir inzwischen mehr als eine Million Corona-Tote weltweit. Es ist allerdings richtig, bei allen Entscheidungen immer auch die Auswirkungen zu bedenken, die wirtschaftlichen, die sozialen und auch die psychologischen. das ist verantwortliche Politik: Handeln, wenn gehandelt werden muss – falls nötig auch schnell –, und bereit sein, sich zu korrigieren, wo das notwendig ist. Aus Fehlern zu lernen, ist ein Prinzip des Philosophen Karl Popper gewesen, und diesem Prinzip werden alle politischen Ebenen besser gerecht, als man es vielleicht im Vorhinein erwartet hätte. Deswegen ist die Zustimmung der großen Mehrheit der Bevölkerung zu den staatlichen Maßnahmen so hoch. Natürlich werden die Maßnahmen teilweise kritisch beurteilt, das gehört zur Demokratie. Es darf, ja, es muss demonstriert werden. Am Schluss entscheidet aber die Mehrheit – und die Entscheidungen müssen dann auch von den anderen akzeptiert werden.

Sie haben als Finanzminister einen schuldenfreien Etat übergeben. Jetzt haben wir die höchste Neuverschuldung aller Zeiten. Ab wann sollten wir zur Normalität zurückkehren?

Sobald wir wirtschaftlich wieder eine einigermaßen normale Situation haben, sollten wir die laufenden Ausgaben aus den laufenden Einnahmen decken. Nach John Maynard Keynes muss der Staat, um Schlimmeres zu verhindern, Schwankungen im Konjunkturverlauf ausgleichen und im Zweifel fehlende Nachfrage substituieren – notfalls auch durch Defizite. Aber wenn die Zeiten wieder normal sind, muss der Staat genauso versuchen, wieder zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen. Mein Rat an die Politik ist es, nicht den Eindruck zu erwecken, dass Geld auf Dauer unbegrenzt zur Verfügung steht. Es braucht eine nachhaltige Finanzpolitik. Wann genau das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts wieder erreicht sein wird, hängt vom Verlauf der Pandemie und dem zielgerichteten Einsatz der Mittel aus den verschiedenen Rettungspakten ab.

Stichwort Schulden: Sehen Sie mit Sorge, dass sich die Europäische Union durch den Umweg Corona dauerhaft verschuldet und auch eigene Steuern bekommt?

Ich bin davon überzeugt, dass die Währungsunion ohne eine Wirtschafts- und Finanzunion auf Dauer nicht stabil sein kann. Als ich 2010 in der Eurokrise einen Europäischen Währungsfonds einrichten wollte, um die Schuldenkrise stärker zu bekämpfen, war das politisch nicht durchsetzbar. Das ist jetzt anders: Der Schock der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bietet jetzt eine Chance, die man nutzen sollte. Nur Geld zur Verfügung zu stellen, löst keine Probleme. Es kommt darauf an, was mit dem Geld gemacht wird. Dass die Mittel richtig eingesetzt werden. Wenn Europa allerdings dafür eigene Schulden aufnehmen muss, was in der aktuellen Situation unvermeidlich und richtig ist, dann braucht Europa auch eigene Einnahmen, um die Schulden zurückzahlen zu können. Das ist ein Weg, um schrittweise zu einer Wirtschafts- und Finanzunion zu kommen.

Da sind Sie ja auf einer Linie mit der SPD.

Sie und Ihre Leser wissen: Europapolitik war und ist eine Kernkompetenz der Union. Europa muss sich auf die Dauer in Richtung einer wirtschaftlichen und finanziellen Gemeinschaft bewegen, mit gemeinschaftlichen Entscheidungen, die auch gemeinschaftlich durchgesetzt werden können. Die verantwortliche Entscheidung, wofür Geld ausgegeben wird, und die Haftung dafür dürfen nicht auseinanderfallen. Die bloße Zurverfügungstellung von finanziellen Mitteln ist eher eine Versuchung, nicht das Notwendige zu tun. Das nennen die Ökonomen Moral Hazard. Ich habe nie gesagt, dass wir anderen nicht mehr helfen sollten. Aber ich habe immer gesagt, wir müssen dafür sorgen, dass sie das Richtige tun. Und dafür brauchen wir die institutionellen Mittel. Es bleibt dabei: Deutschland wird es nur gut gehen, wenn es auch den anderen Staaten in Europa gut geht. Deutschland wird eine gute Zukunft nur in einem starken, zukunftsfähigen Europa haben.

Werden wir am Ende einen europäischen Bundesstaat haben? Oder bleibt die EU ein Staatenbund?

Die EU ist ja kein Staatenbund mehr. Die EU ist weit mehr als das. Wir sind verflochten, haben gemeinsame Institutionen, arbeiten an einer gemeinsamen Asylpolitik. Das geht weit über einen Staatenbund hinaus. Es wird eine neue Form entstehen, die ins 21. Jahrhundert passt, wo kein Staat alle Probleme in eigener Souveränität lösen kann. Den Klimawandel könnten nicht einmal die USA erfolgreich bekämpfen. Deswegen brauchen wir neue Formen geteilter Souveränität. Ein Teil wird in den Nationalstaaten oder in den Kommunen oder in Regionen und ein Teil wird in Europa geregelt. Und hoffentlich wird in Zukunft ein wachsender Teil global geregelt. Den Rückzug aus multilateralen Entscheidungen, den wir zum Beispiel bei US-Präsident Donald Trump erleben, halte ich für brandgefährlich.

Aber gerade in der Flüchtlingspolitik funktioniert Europa doch überhaupt nicht. Jetzt sollen sogar mit deutscher Zustimmung die Gelder für Frontex erheblich gekürzt werden.

Sie sehen ja, wie der Bundesinnenminister sich derzeit um eine europäische Lösung bemüht, die Bundeskanzlerin sowieso. Die Fortschritte sind langsam sichtbar. Mir reicht es auch noch nicht. Aber man muss das tun, was man erreichen kann. Ein wichtiger Schritt ist der Aufbau eines europäischen Aufnahmezentrums in Lesbos. Wir müssen schneller in europäischer Verantwortung entscheiden, ob wir die Flüchtlinge in Europa unterbringen können oder andernfalls Wege der Rückführung finden. Notfalls auch, indem man dort Kapazitäten schafft, wo die Menschen in der Nähe ihrer Heimat untergebracht werden können, allerdings dann unter menschenwürdigen Bedingungen, die auch abgesichert werden müssen, wenn nötig militärisch. Hier wird Europa sich noch viel mehr engagieren müssen. Der jetzige Zustand ist jedenfalls nicht akzeptabel.

Aber ist es richtig, wenn Deutschland wieder einen Alleingang macht und Leute herholt?

Deutschland macht keinen Alleingang, sondern Deutschland hat in einer extremen Notsituation gesagt: Wir müssen mehr tun. Das geschah ihn Abstimmung mit der griechischen Regierung – wobei wir klargemacht haben, dass wir von anderen ebenfalls mehr Einsatz erwarten. Anders funktioniert Europa nicht. Das war absolut richtig, und ich bin froh darüber.

Können Sie nachvollziehen, dass viele Menschen diese Entscheidung der Regierung nicht verstehen und wütend reagieren?

Ich habe natürlich Verständnis für Menschen, die sich fragen, wie es mit allem weitergehen soll, mit dem Klimawandel, mit der Weltbevölkerung, mit den Fluchtbewegungen, mit der Not in der Welt. Unsere gemeinsame Herausforderung ist es, – auch wenn wir nicht alle Probleme der Zukunft auf einmal lösen können – heute das Beste zu tun, was wir nach unserer Überzeugung tun können. Im Augenblick sind die Migrationszahlen keine Bedrohung. Im Gegenteil, wir haben ja einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Also: Wir können noch sehr viel mehr tun, bevor wir sagen, jetzt ist es nicht mehr zu schaffen. Aber natürlich dürfen wir nicht die anderen in Europa aus der Verantwortung entlassen, und es muss immer ein Stück weit abgewogen sein. Das ist das Komplizierte und gleichzeitig das Interessante an Politik.

 

Wie sehen Sie im Moment die Spaltung der Gesellschaft, den Hass, der vielen Politikern entgegenschlägt bis hin zu politisch motivierten Attentaten? Diese Dimension ist doch neu?

Es gibt in Teilen der öffentlichen Debatte eine Enthemmung und in den sozialen Netzwerken schlimme Entwicklungen, auf die wir noch keine umfassenden, zufriedenstellenden Antworten haben. Das ist eine gefährliche Entwicklung, der muss man mit aller Entschiedenheit immer wieder entgegentreten und sich selbst vorbildlich verhalten. Aber ich würde das nicht dramatisieren. Es gibt bei der großen Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft noch immer die zivilisierte Debatte. Eine freiheitliche Gesellschaft kann aber immer wieder lernen und besser werden.

Warum sind Sie nicht bei Twitter?

In meinem Alter bin ich allenfalls ein Digital Immigrant – und meine Funktion als Bundestagspräsident erfordert nun wirklich nicht, dass ich bei Twitter vertreten bin. Ich muss nicht zu jedem Problem in einen Wettlauf eintreten, wer am schnellsten seine Meinung sagt.

Wären Sie für eine Klarnamenpflicht, so dass die Leute in sozialen Medien sich auch zu ihrer Meinung mit Namen bekennen sollten?

Ich habe eine große Präferenz dafür, da bin ich altmodisch. Aus gutem Grund haben wir bei Demonstrationen ein Vermummungsverbot eingeführt. Ich muss doch auch im Netz wissen können, ob ein Mensch eine bestimmte Meinung äußert oder ob ich algorithmengesteuerten Botschaften folge. Natürlich weiß ich, dass viele sich nicht trauen und manche auch gute Gründe haben, es nicht zu tun. Aber wir sollten dafür eintreten, dass, wer eine Meinung äußern will, sich auch dazu bekennen soll und kann. Generell finde ich: Meinung heißt auch, für die Meinung einzutreten.

Eine Frage an das CDU-Präsidiumsmitglied: Wissen Sie schon, wen Sie auf dem CDU-Parteitag als Vorsitzenden wählen werden?

Ja.

Verraten Sie, wen?

Nein, ich habe nicht die Absicht, das jetzt öffentlich zu machen.

Also hat sich an ihrer bisherigen Meinung nichts geändert?

Ich werde einen der drei Kandidaten wählen.

Könnte der gemeinsame Kanzlerkandidat auch von der CSU sein?

Das werden CDU und CSU in guter Tradition zu gegebener Zeit miteinander besprechen. Das ist keine einfache Entscheidung, aber es wird gelingen. Aktuell teile ich in dieser Frage die Meinung des CSU-Vorsitzenden: Das sollte man nicht vor der Osterpause nächsten Jahres machen. Jeder, der Kanzlerkandidat von CDU und CSU ist, wird noch bis zur Wahl neben einer sehr angesehenen und erfolgreichen Kanzlerin stehen. Und diesen Zeitraum sollte man für den Kanzlerkandidaten nicht zu lange strecken.

Aber besteht dann nicht die Gefahr, dass dieser Zwischenraum von dem unterlegenen Lager genutzt wird, um den Vorsitzenden zu schwächen?

So sind unsere Kandidaten nicht. Jeder, der unterliegt, wird fair sein. So war es schon bei der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer 2018. Friedrich Merz und Jens Spahn haben sie danach loyal unterstützt. In ihrem Fall ging es aus anderen Gründen nicht gut.

Lag das an Angela Merkel?

Angela Merkel hat als Kanzlerin zu unserem Glück im Zuge der Coronakrise wieder ein Ansehen im In- und Ausland erlangt, das außergewöhnlich ist. Damit muss jeder, ob Parteivorsitzender oder Kanzlerkandidat, klug umgehen. Und das weiß mit Blick auf den Wahlkampf auch die Kanzlerin.

Braucht die CDU eine Frauenquote?

Ich kann mich noch an die ersten Debatten um Frauenquoten erinnern. Auch ich wünsche mir mehr Frauen in der Politik, habe mich aber immer gegen Quoten ausgesprochen. Das geht aber offensichtlich zu langsam. Deshalb bin ich für Impulse, die dafür sorgen, dass der Prozess sich schneller positiv entwickelt. Wenn nichts anderes als eine Quote hilft, dann sollte sie eben als Übergang eingeführt werden.

… und dann irgendwann wieder aufgehoben werden?

Sobald wir genug Frauen haben, brauchen wir keine Quote mehr. Es ist falsch, die ganze Gesellschaft und die Parteien nach Quoten zu zerlegen. Aber eine Frauenquote kann hilfreich sein. Wir wissen, dass die CDU eine gewisse Trägheit bei solchen Veränderungen hat.

Sie kandidieren nach 48 Jahren im Parlament auch 2021 noch einmal. Was würden Sie jungen Bundestags-Neulingen raten?

Sie sollten sich fleißig einarbeiten und mutig für ihre Überzeugungen eintreten. Abgeordnete dürfen auch mal anecken. Demokratie lebt vom Streit, und Streit erfordert den Mut, seine Meinung zu sagen. Gleichzeitig sollten Bundestags-Neulinge nicht nur überlegen, was sie wie werden können, sondern schauen, wo ihre Fähigkeiten liegen. Man kann nicht gleich alle Fragen allein entscheiden, sondern muss sich in ein größeres Ganzes einbringen. Aber jeder hat spezifische Fähigkeiten, die man zum gemeinsamen Nutzen einbringen kann. Ich erinnere mich noch gut, als ich 1972 erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Rainer Barzel begrüßte uns Parlaments-Neulinge damals mit einer klaren Botschaft. Er sagte sinngemäß: „Reden können Sie alle. Was Sie hier lernen, ist zuhören.“

Wir bitten Sie, die folgenden Fragen nur mit Ja oder Nein zu beantworten. Sie haben einen Joker. Wird die CDU den nächsten Kanzler stellen?

Ja.

Wird die AfD dauerhaft im Bundestag sein?

Nein.

Werden die Grünen die SPD als linke Volkspartei ablösen?

Joker.

Kennen Sie jeden Abgeordneten persönlich?

Nein.

Stört es Sie manchmal, dass Sie berühmt sind?

Ja.

Zum Schluss eine Satzvervollständigung: „Wenn ich nicht Politiker wäre…“

… wäre ich heute wahrscheinlich ein älter gewordener Rechtsanwalt.
 


 
Wolfgang Schäuble (78) ist Präsident des Deutschen Bundestages. Der Offenburger gehört seit 1972 ununterbrochen dem Bundestag an. Er ist nicht nur dienstältester Abgeordneter in der Parlamentsgeschichte, sondern verfügt über so viel Regierungsverantwortung wie kein Zweiter: Der Jurist diente bereits als Finanzminister (2009 bis 2017), als Innenminister (2005 bis 2009 und 1989 bis 1991) und als Kanzleramtsminister (1984 bis 1989). Dazwischen amtierte er als Vorsitzender der Unionsfraktion (1991 bis 2000) und auch als CDU-Vorsitzender (1998 bis 2000). Die MIT zeichnete ihn 2016 mit dem Deutschen Mittelstandspreis aus. Bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr kandidiert er erneut.

Das Interview erschien im Mittelstandsmagazin, Ausgabe 5-2020