Im März 2020 geschieht in Hongkong Erstaunliches. Der deutsche Rapper Apache 207, bürgerlicher Name Volkan Yaman, landet mit seinem neu erschienenen Lied „Matrix“ auf Platz 2 der Spotify-Charts in Hongkong. Die Platzierung verwundert, denn Apache 207 rappt auf Deutsch. In Hongkong werden vor allem Englisch sowie die chinesischen Sprachen Kantonesisch und Mandarin gesprochen. Deutschsprachige Musik spielt in Hongkong normalerweise keine Rolle.
Kurz darauf gelingt Apache 207 mit dem Lied „Fame“ der zweithöchste Neueinstieg auf Spotify weltweit. Nur das Lied „Stuck with U“ von den internationalen Topstars Ariana Grande und Justin Bieber wird an diesem Tag von mehr Menschen weltweit gehört. Entdecken Menschen weltweit plötzlich ihre Liebe zum Deutschrap? Unwahrscheinlich. Die internationale Musikindustrie wird von englischsprachigen Künstlern dominiert. Dass Apache 207 zweimal eine derart hohe Platzierung bei Spotify erreicht, ist nahezu ausgeschlossen.
Vorwurf der Manipulation
Wie konnte es also trotzdem soweit kommen? Dazu muss man verstehen, wie Spotify funktioniert. Spotify ist ein digitaler Musikdienst, der Zugriff auf Millionen von Liedern ermöglicht. Das 2006 gegründete schwedische Startup zählt heute zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Wer auf Spotify ein Lied für mehr als 30 Sekunden hört, erzeugt damit einen Abruf. Spotify misst alle Abrufe, die in einem Monat anfallen. Der Gesamtzahl der monatlichen Abrufe stellt Spotify seine monatlichen Einnahmen aus Werbung und Abogebühren gegenüber. Künstler erhalten dann Geld für den Anteil ihrer Abrufe an den gesamten Abrufen eines Monats. Je mehr Abrufe eine Band oder Musiker im Monat hat, desto mehr Geld zahlt Spotify. Abrufe können allerdings manipuliert oder eingekauft werden, um so die Chartplatzierung zu erhöhen. Wer im Falle von Matrix die Charts manipuliert hat, ist nicht bekannt. Apache 207 streitet ab, dass er oder sein Musiklabel dafür verantwortlich sind.
Monopolist Spotify?
Für viele Musiker und ihre Manager wird Spotify zum Problem. Der Umsatz von Musikern, Bands und Plattenfirmen ruht im Wesentlichen auf drei Säulen: Konzerte, Verkäufe von CDs und Schallplatten sowie Einnahmen durch Streaming. Lange Zeit waren Konzerte und der Verkauf physischer Tonträger die Haupteinnahmequellen in der Musikindustrie. 2017 jedoch wurde erstmals mehr Geld durch Streaming als mit dem Verkauf von Tonträgern umgesetzt. Wer mit Musik Geld verdienen will, kommt heute am Marktführer Spotify kaum vorbei.
Musikmanager Joe Chialo beschreibt das Dilemma seiner Künstler: „Der physische Markt war bislang so stark, dass er vieles kompensiert oder sogar überkompensiert hat.“ Nun schmelze der physische Markt aber dramatisch und viele Künstler stellten fest, dass „das System Spotify, auch über das Abrechnungssystem hinaus, eine Vielzahl von Problemen befeuert“. MIT-Mitglied Chialo weiß, wovon er spricht. Er ist Geschäftsführer von Airforce 1 Records, einem Plattenlabel, das zum Marktführer Universal Music gehört.
Chialo hat zusammen mit Managern, Verlegern und Anwälten die Initiative Fair Share gegründet. Sie setzen sich dafür ein, die Abrechnungssysteme der Streaming-Dienste zu reformieren. Chialo erklärt das Problem an Spotify: „Wenn ein Song 30 Sekunden gespielt wurde, zählt er auf Spotify als abgespielt. Das fördert natürlich bestimmte Genres mit kürzeren Liedern. Ein Jazzkünstler, der komplexe, lange Songs mit Orchester produziert, ist bei diesem System im Nachteil. Es entsteht ein Gefälle, was die Vielfalt an Musik angeht.“ Fair Share fordert deswegen ein User-Centric- Payment-Verfahren (UCP). „Hier werden die Erlöse aus den Abonnementgebühren der einzelnen Kunden exakt an die Künstler verteilt, die der Kunde gehört hat“, erklärt Chialo. Dieses System sei fairer und weniger manipulierbar. „Denkbar wäre auch, dieses System zu einem User Time Centric Payment-Verfahren (UTCP) zu erweitern“, so Chialo. Dabei wird nicht nur erfasst, wie oft, sondern auch, wie lange ein Lied angehört wird. „Das würde die Vielfalt der Musik fördern. Komplexe Genres mit hohen Kosten und Personalaufwand würden davon profitieren“, sagt Chialo. Außerdem würde das die Manipulationsanfälligkeit reduzieren, weil es sich dann für automatische Systeme nicht mehr lohnt, alle 30 Sekunden das Lied erneut abzurufen.
Spotify wollte sich auf Anfrage des Mittelstandsmagazins nicht zu dem Thema äußern. Warner Music, eines der größten Musiklabels weltweit, leitete die Anfrage an den Bundesverband Musikindustrie (BVMI) weiter. Aus Sicht des BVMI hat die Debatte um manipulierte Abrufe im Wesentlichen durch versuchte Betrugsfälle an Bedeutung gewonnen: „Es ist richtig, dass es immer wieder Dienste gibt, deren Geschäftsmodell die Manipulation von Streams bestimmter Künstler ist – gegen Geld“, sagt Florian Drücke, Vorstandsvorsitzender des BVMI. In der Branche sei man längst auf die Problematik aufmerksam geworden. Immer wieder klagt der Verband gegen Anbieter, die Manipulationen von Musik-Streams anbieten.
Der BVMI bezweifelt allerdings, dass ein anderes Abrechnungssystem automatisch besser für Künstler und Bands wäre. „Die Diskussion über eine potentielle Veränderung wird nach unserer Wahrnehmung sehr abstrakt geführt und dabei oft mit Annahmen unterfüttert, nicht mit Daten aus der wirtschaftlichen Realität“, sagt Drücke. „Andere Wege der Abrechnung zu gehen, ist nach unserer Überzeugung ein Weg, den die Plattformen gemeinsam mit allen Marktteilnehmern entscheiden sollten – möglichst auf Basis klarer Erwartungen auf allen Seiten, damit es nicht zu Fehlwahrnehmungen und nicht erfüllten Hoffnungen kommt.“
Verträge aus den 2000ern
Dieter Semmelmann führt eines der größten Veranstaltungsunternehmen in Europa und beschäftigt rund 150 Mitarbeiter. Sein Unternehmen ist auch beratend für Künstler wie den Schlagerstar Roland Kaiser tätig. „Für Manager von Künstlern ist häufig nicht eindeutig nachvollziehbar, welche Erlöse nach welchen Kriterien von den Streaming-Diensten an die Musikkonzerne weitergegeben werden. Auch die Abzüge, die die Konzerne und die Streaming-Dienste einbehalten, sind für mich häufig nicht nachvollziehbar.“ Joe Chialo ergänzt: „Das Geschäftsmodell der CDs war sehr transparent.“ Diese Transparenz, an die sich die Branche gewöhnt habe, falle nun weg. „Durch das Streaming gibt es nur noch einen Kuchen, von dem verteilt wird. Aus welchen Zutaten sich dieser Kuchen zusammensetzt, ist für die Künstler und ihre Manager aber nicht nachvollziehbar“, kritisiert er.
Wenn das System Spotify für die Künstler aber so nachteilig ist, warum haben sie dann überhaupt Verträge mit dem Unternehmen geschlossen? „Spotify kommt aus einer Zeit, als Streaming noch keine Rolle spielte“, erklärt der Medienanwalt Olaf Meinking. „Streaming hatte Anfang der 2000er Jahre einen Marktanteil von unter zwei Prozent. Es war ein reines Experimentierfeld, um herauszufinden, ob Streaming als Markt überhaupt funktioniert.“ Deshalb habe man sich als Experiment auf ein vorläufiges Vergütungsmodell eingelassen, erklärt Meinking, der unter anderem mit den Musikern Marius Müller-Westernhagen und Clueso zusammenarbeitet. „Wir konnten die Folgenabschätzung damals nicht vornehmen. Aus dem kleinen Pflänzchen, das Spotify bei seiner Gründung war, ist heute einer der entscheidenden Player in der Musikindustrie geworden. Im Nachhinein war es ein Versäumnis, die zukünftige Relevanz von Spotify nicht zu erkennen“, räumt Meinking ein.
Kultur ist auch Wirtschaft
Der Medienanwalt sieht zwei Probleme in der Musikindustire. „Das eine ist ein langfristiges und grundlegendes Problem. Das sind die sinkenden CD-Verkäufe und die steigende Marktmacht von Streaming-Diensten wie Spotify. Wir sind jetzt in der entscheidenden Phase, in der sich für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte ordnen wird, wie Musik vergütet wird.“ Deswegen sei es so wichtig, das Thema jetzt auf die Agenda zu setzen. „Das zweite Problem ist ein akutes: das aktuelle Verbot von Livekonzerten in der Corona-Zeit“, sagt Meinking.
Dieter Semmelmann ergänzt: „Selbst da, wo Konzerte wieder stattfinden dürfen, haben wir ein Problem. Wir dürfen Veranstaltungsorte, die bereits gebucht sind, nur zu 20 oder 25 Prozent füllen.“ Das sei schlicht kein wirtschaftliches Modell. „Wenn wir bei einer Auslastung von 25 Prozent bereits unsere Gewinnschwelle erreichen würden, würden wir alle längst auf den Bahamas leben.“ Nach dem ersten Lockdown im März seien tausende Veranstaltungen verschoben worden. „Die Branche schiebt aktuell ein Volumen von 150.000 Veranstaltungen vor sich her. Die müssen wir im kommenden Jahr irgendwann durchführen“, sagt Semmelmann. Bei einer Auslastung von 25 Prozent sei das nicht machbar. „Der Trugschluss der Politik ist, dass die Kultur mit diesen Einschränkungen wieder anläuft. Das ist, als würde man der Lufthansa zwar erlauben, wieder Flüge durchzuführen, aber nur ein Viertel der Sitze zu belegen“, so Semmelmann.
Der Konzertveranstalter hat zwei Forderungen an die Politik: „Die meisten Konzerttickets verkaufen wir im Weihnachtsgeschäft. Wir brauchen also bis November einen Fahrplan der Politik, wie es im nächsten Jahr weitergeht.“ Zwar habe er Verständnis, dass dies in Anbetracht der Pandemie nicht einfach sei. „Aber wenn das nicht geht, brauchen auch wir finanzielle Unterstützung“, klagt Semmelmann. „Das Allerschlimmste für uns ist, dass wir in der Politik kein Gehör finden. Wir werden gar nicht als Wirtschaftszweig wahrgenommen.“
Das sieht auch Joe Chialo so: „Kultur wird oft nicht als moderne Kultur, die wirtschaftlich arbeitet, wo unternehmerisches Denken im Vordergrund steht, begriffen.“ Stattdessen werde Kultur mit subventionierter Kultur verwechselt. Die Konzertbranche gehe dabei leer aus, kritisiert Chialo: „Man glaubt, das Problem sei gelöst, wenn Geld für Museen und Opern bereitgestellt wird.“ Es brauche ein neues Bewusstsein: „Denn in der Veranstaltungswirtschaft arbeiten ganz viele Soloselbstständige und kleine Unternehmen.“
Micha Knodt
Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin, 5-2020
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