Tarifautonomie retten

Datum des Artikels 05.06.2014

Ein Plädoyer für eine Stärkung der Tarifautonomie von Carsten Linnemann

In diesen Tagen wird wieder heftig über den Mindestlohn gestritten. Dabei geht es um Ausnahmen für Praktikanten, Langzeitarbeitslose, junge Arbeitnehmer. Das sind alles berechtigte Punkte. Aber viel wichtiger ist eine ganz andere, viel größere Gefahr: Die schrittweise Entmachtung der Tarifpartner.

Der grundsätzliche Bruch mit dem fundamentalen Prinzip, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Löhne entscheiden und nicht der Staat, erfolgt mit der politischen Festsetzung des Mindestlohns bei 8,50 Euro. Umso entscheidender ist es jetzt, dass bei der weiteren Entwicklung dieses Mindestlohnes die Tarifparteien die entscheidende Rolle spielen. Dafür haben sich Union und SPD sich im Koalitionsvertrag auf eine Mindestlohnkommission festgelegt, die von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern besetzt werden soll.

Doch aktuelle Vorschläge für eine automatische Steigerung des Mindestlohnes per Gesetz bedeuten eine weitgehende Entmachtung der Kommission: Der Mindestlohn soll nicht in freier Entscheidung gefunden werden, sondern von der Entwicklung der allgemeinen Tariflöhne abhängen. Automatismus statt Freiheit hat aber nichts mit der grundgesetzlich verankerten Tarifautonomie zu tun.

Bei den künftigen Anpassungen des Mindestlohns müssen vor allem soziale Aspekte, aber auch Beschäftigungswirkungen im Niedriglohnbereich berücksichtigt werden. Das wird bei „normalen“ Tarifabschlüsse allenfalls am Rande berücksichtigt. Der Durchschnitt aller Tarifabschlüsse ist deshalb kein gutes Vorbild für die Neufestsetzung der Lohnuntergrenze. In einer Kommission dagegen müssen Gewerkschaften und Arbeitgeber frei und ohne Rechtfertigungszwang prüfen, verhandeln und entscheiden können. Sicherlich werden sie dabei die allgemeine Lohnentwicklung berücksichtigen, aber eben auch viele andere Aspekte wie Arbeitsplatzsicherheit und Beschäftigungschancen. Wenn beispielsweise das duale Ausbildungssystem leiden sollte, dann muss die Kommission darauf reagieren können, genauso wenn es in einer Branche, in einer Region oder bei Älteren oder Jüngeren aufgrund des Mindestlohnes zu extremen Arbeitsplatzverlusten kommen sollte. Deshalb müssen die Wirkungen des Mindestlohnes regelmäßig evaluiert werden. Und dann muss die Kommission die Möglichkeit haben, Ausnahmen zuzulassen: als Schutzzone für Beschäftigung.

Zugegeben, für die beteiligten Personen eine schwierige Rolle. Denn der Druck von außen wird immens sein. Die Vertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Kommission müssen sich dieser Verantwortung stellen. Zentralbanken zeigen wie es geht: Dort gibt es auch großen Druck von außen. Trotzdem treffen sie aufgrund breiter Analysen und vertraulicher Debatten ganz autonom ihre Entscheidungen.

Wenn es zu einer automatischen Koppelung des Mindestlohnes an die allgemeine Tarifentwicklung kommt, brauchen wir keine Kommission mehr. Dann reicht ein Fax des Statistischen Bundesamtes. Doch das wäre nicht nur ein Bruch des Koalitionsvertrags, sondern die Aushebelung der Tarifautonomie. In der Sozialen Marktwirtschaft können verantwortungsvoll nur die Sozialpartner über die Lohnfindung entscheiden. Helfen wir ihnen, dass sie diese Entscheidung auch in Zukunft schultern können.