Den 1. Juli werden sich viele Rentner dick im Kalender eingetragen haben. Dannnämlich erhalten die rund 21 Millionen Rentner in Deutschland spürbar höhere Bezüge. In Westdeutschland legen die Renten um 3,18 Prozent zu, im Osten sogar um 3,91 Prozent. Wie schon in den vergangenen Jahren profitieren die Rentner von der guten Lage am Arbeitsmarkt und von deutlichen Lohnsteigerungen. Die Kehrseite jedoch ist: Die steigenden Renten werden zur zunehmenden Belastung für alle Steuerzahler. Laut neuem Finanzplan des Bundes wird der Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung massiv ansteigen, bis zum Jahr 2023 auf jährlich 114 Milliarden Euro. Das wären 16 Milliarden Euro mehr als im laufenden Jahr. Angesichts einer wachsenden Zahl an Rentnern und bereits beschlossener Milliardenprojekte der Großen Koalition – unter anderem Rente mit 63, Mütterrente, Rentenangleichung Ost-West – verwundert das nicht. Bis 2023 werden die Sozialausgaben den Rekordwert von fast 200 Milliarden Euro pro Jahr erreichen. Das heißt: 53 Prozent der Steuereinnahmen werden dann für Soziales ausgegeben. Und davon wiederum mehr als die Hälfte für die Rente.
Bis zu 447 Euro mehr
Dabei ist der pünktlich zur Europawahl eingebrachte Gesetzentwurf für eine Grundrente noch nicht einkalkuliert. Das Konzept, das Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) als „Respekt-Rente“ bemäntelt, sieht eine Aufwertung der Renten von rund drei Millionen Geringverdienern mit mindestens 35 Beitragsjahren vor. Auch Teilzeitarbeit sowie Kindererziehungs- und Pflegezeiten zählen mit. Dies war von Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart worden. Dort heißt es allerdings unmissverständlich: „Voraussetzung für den Bezug der Grundrente ist eine Bedürftigkeitsprüfung.“ Auf diese Prüfung verzichtet Heil nun aber. Jeder, der 35 Jahre lang Beiträge gezahlt hat, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat, soll automatisch eine Aufstockung erhalten – um bis zu 448 Euro im Monat, gleich ob er vermögend ist, einen vermögenden oder gut verdienenden Partner hat oder in Teilzeit dazuverdient hat. Wer sich dagegen in Vollzeit über Jahrzehnte eine Rente erarbeitet hat, die knapp über der Grundsicherung liegt, bekommt nichts dazu.
Rechtsprofessor Heinz-Dietrich Steinmeyer von der Universität Münster kommt in einem Gutachten daher zu dem Ergebnis, dass der Gesetzentwurf das Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung verletzt: Zwischen den eingezahlten Beiträgen und den später ausgezahlten Leistungen müsse es eine Gleichwertigkeit geben. Der renommierte Jurist schreibt, der Entwurf schieße „in verfassungswidriger Weise über das Ziel hinaus“.
Kostenexplosion droht
Nach Berechnungen des Arbeitsministeriums kostet die Grundrente im ersten Jahr (2021) rund 3,8 Milliarden Euro. Bis 2025 steigen die Kosten auf 4,8 Milliarden Euro pro Jahr. In Summesind das rund 21,5 Milliarden Euro. Experten erwarten dagegen wesentlich höhere Beträge. Professor Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg geht von Mehrkosten um rund sieben Milliarden Euro bereits im ersten Jahr aus. Bis 2025 würden diese auf 8,3 Milliarden Euro jährlich ansteigen. „Damit liegen die tatsächlichen Kosten der Grundrente um mehr als zwei Drittel über der politischen Projektbewerbungskalkulation des Ministers. Das ist eine unverantwortliche Irreführung der Steuer- und Beitragszahler“, sagt Raffelhüschen. Auch der Bund der Steuerzahler ist skeptisch. „Der finanzielle Kollateralschaden für die Steuerzahler wäre immens, weil die Grundrente in dieser Form weit über das gewollte Ziel hinausschießen würde“, teilt der Verband mit. „Bei einer Grundrente fehlen mir konkrete Finanzierungszahlen einerseits und ein nachhaltiges Gesamtkonzept andererseits“, so Verbandspräsident Rainer Holznagel.
Finanzierung schöngerechnet?
Wie das Milliardenprojekt finanziert werden soll, bleibt unklar. Ursprünglich war vereinbart, das Projekt komplett aus Steuermitteln zu bezahlen. Wegen der angespannten Haushaltslage planten Heil und SPD-Finanzminister Olaf Scholz Berichten zufolge sogar, zunächst auf die Rentenrücklage zurückzugreifen. Dagegen regten sich heftige Proteste von Union, FDP und Grünen. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf sieht immerhin eine Finanzierung größtenteils aus Steuermitteln vor – die aber bislang weder beschlossen noch in der mittelfristigen Finanzplanung eingeplant sind. Es ist nicht einmal eine politische Mehrheit dafür absehbar: So plant Heil zum einen mit noch gar nicht vorhandenen Steuermehreinnahmen durch eine von ihm vorgeschlagene Anhebung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes auf Hotel-Übernachtungen. Zum anderen kalkuliert der Minister mit einer noch einzuführenden Finanztransaktionssteuer. Dabei sah das SPD-Europawahlprogramm vor, dass die Einnahmen dieser Steuer der EU zufließen sollen. „Im Arbeits- und Sozialministerium werden die Kosten der Grundrente offenbar künstlich kleingerechnet, ihre Finanzierung hingegen schöngerechnet – und das zu Lasten der anderen Zweige der Sozialversicherung“, argumentiert Raffelhüschen. „Ungerecht, unsolide und unseriös“, nannte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Jung, die Pläne. Der Entwurf enthalte „eine Ansammlung von Luftbuchungen.“ Der Haushaltssprecher der Unionsfraktion Eckhardt Rehberg sagte: „Mit allen Tricks sollen über vier Milliarden Euro zusammengekratzt werden: Steuererhöhungen, diffuse Einsparungen und Anzapfen der Sozialversicherungskassen.“ Die Union, das bekräftigten sowohl CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer als auch CSU-Chef Markus Söder, hält an der Bedürftigkeitsprüfung fest.
Die Jungen müssen zahlen
Wie der Streit auch ausgehen mag, ab dem kommenden Jahr müssen Steuerzahler mit deutlich steigenden Belastungen rechnen. Das liegt auch an dem von der Großen Koalition erst im vergangenen Jahr beschlossenen Rentenpaket, das neben der Ausweitung der Mütterrente, Verbesserungen für krankheitsbedingte Frührentner und einer Entlastung von Geringverdienern bei den Sozialabgaben auch die „doppelte Haltelinie“ beinhaltet. Danach soll bis 2025 ein Sicherungsniveau von 48 Prozent nicht unterschritten und ein Beitragssatz von 20 Prozent nicht überschritten werden. Kostenpunkt des Rentenpakets: Rund 32 Milliarden Euro bis 2025. Aufkommen müssen dafür die kommenden Generationen, denen immer mehr Ältere gegenüberstehen. Während 2015 auf 100 Menschen im erwerbstätigen Alter 35 Rentner kamen, werden es nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2035 schon 47 Rentner sein.
Dazu kommt: Die Große Koalition schnürt ihre milliardenschweren Pakete in einer konjunkturell wie politischunsicheren Zeit. Nach zehn Jahren unentwegten Aufschwungs trübt sich die Wirtschaftslage derzeit weltweit ein. Kippt die Konjunktur ganz und Deutschland schlittert in eine rezessive Phase, könnte es sich rächen, dass die Politik enorme Summen fürimmer neue Rentenversprechungen verplant hat. Erst im Mai mussten die Steuerschätzer der Bundesregierung die erwarteten Staatseinnahmen deutlich nach unten korrigieren. Ebenso senkte die Bundesregierung die Wachstumsprognose für das laufende Jahr mehrmals nach unten. Die Maßnahmen verwundern auch deshalb, da die Bundesregierung vor einem Jahr eigens eine Rentenkommission eingerichtet hat. Das Expertengremium soll bis Frühjahr 2020 Vorschläge machen, wie das Rentensystem für die Zeit ab 2025 auf Dauer finanzierbar bleibt – dann, wenn die Generation der Babyboomer in den Ruhestand geht.
Vorsorge als Staatsaufgabe?
Wie kann das Rentensystem also auf sichere Füße gestellt werden? Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute entwarfen im vergangenen Jahr drei unpopuläre Szenarien:
Steuererhöhungen, längeres Arbeiten oder 500 000 Zuwanderer pro Jahr. Denn es sei „kaum vorstellbar, dass sich die versprochenen Maßnahmen ohne eine substanzielle Erhöhung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus oder substanzielle Steuererhöhungen finanzieren lassen“, schrieben die Forscher in ihrem Frühjahrsgutachten. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, die Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung zu erhöhen. Etwa, indem mehr Zuwanderer in den Arbeitsmarkt integriert werden, mehr Frauen in Vollzeit arbeiten oder weniger Menschen in Frührente geschickt werden. Hier macht Deutschland nach Einschätzung der OECD Fortschritte: Seit 2000 sei die Quote der erwerbstätigen 55- bis 64-Jährigen um rund 30 Prozentpunkte angestiegen.
Letztlich wird es aber nicht ausreichen, nur an den Stellschrauben der gesetzlichen Rente zu drehen. Eine im Mai veröffentlichte Studie des Versorgungswerks „MetallRente“ alarmiert: Unter den 17- bis 27-Jährigen glauben mittlerweile fast 20 Prozent, dass der Staat allein für die Altersvorsorge verantwortlich ist. Lediglich ein Drittel der Befragten spart regelmäßig für das Alter. „Die öffentliche Debatte konzentriert sich zu einseitig auf die erste Säule der Altersversorgung, die staatliche Rentenversicherung“, beklagt MIT-Bundesvorsitzender Carsten Linnemann. Die zweite und dritte Säule hingegen, die betriebliche und die private Altersvorsorge, würden zunehmend aus dem Blickfeld geraten. „Da müssen wir gegenhalten.“ Zur Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge spricht sich die MIT beispielsweise für eine Entlastung der Bezieher von Betriebsrenten aus. Sie sollen auf ihre Direktversicherungen künftig nur noch den halben Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung zahlen. Seit 2004 müssen Betriebsrentner sowohl den Arbeitgeber- als auch den Arbeitnehmeranteil tragen. Einen entsprechenden Antrag zur Abschaffung dieser Doppelverbeitragung hat der CDU-Parteitag Ende 2018 angenommen. Betroffen sind davon bundesweit rund sechs Millionen Betriebsrentner. Zudem soll die bisherige Freigrenze, ab der Betriebsrentenbeitragspflichtig werden, in einen finanziell attraktiveren Freibetrag umgewandelt werden. „Damit würden wir alle Betriebsrentner entlasten, die heute Beiträge zahlen, und die Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge würde insgesamt erhöht“, so Linnemann.
Bürgerfonds und Co.
Und die dritte Säule? Im internationalen Vergleich gelten vor allem solche Systeme der privaten Altersvorsorge als erfolgreich, die über eine starke kapitalgedeckte Komponente verfügen. Die Niederlande oder Großbritannien setzen etwa auf ein Mischsystem aus umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Rente. Schweden und Norwegen verfügen über erfolgreiche staatliche Pensionsfonds, die in Aktien und Anleihen investieren. Auf solch ein Modell setzt auch das Ifo-Institut. Die Wirtschaftsforscher schlagen einen „Deutschen Bürgerfonds“ zur Vermögensbildung vor. Die Idee: Der Staat nutzt seine gute Bonität, um günstig Geld zu leihen, das er gewinnbringend anlegt. Die Differenz zwischen Kreditzinsen und Rendite zahlt der Staat den Bürgern aus, ähnlich einer Lebensversicherung.„Da die Bürger selbst keine zusätzlichen Einzahlungen aus ihrem Einkommen leisten müssten, um das Vermögen aufzubauen, ist der ‚Deutsche Bürgerfonds‘ vor allem für Menschen interessant, die wenig verdienen“, sagt Ifo-Präsident Clemens Fuest. Er rechnet vor: Würde der Staat fortan jährlich 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für alle Erwerbsfähigen anlegen, ergäbe das bei einer durchschnittlichen Renditedifferenz von zwei Prozentpunkten nach 50 Jahren einen Ertrag von gut 16.000 Euro pro Kopf. Finanziert würde das durch langsameren Staatsschuldenabbau. Der Unterschied zu den Fonds in Norwegen und Schweden: Dort leisten die Bürger eigene Beiträge und können aus verschiedenen Fonds wählen. Wer sich nicht entscheidet, zahlt automatisch in einen Standardfonds ein. An diesem Modell orientiert sich die „Deutschland-Rente“ der schwarzgrünen-Koalition in Hessen. Danach soll jeder, der nicht über ausreichend betriebliche Altersversorgung verfügt, in eine private Altersvorsorge einbezogen werden – es sei denn, er widerspricht. Eine ebenfalls staatlich organisierte Alternative haben die Verbraucherzentralen vorgeschlagen. Bei ihrer „Extrarente“ lassen sich Arbeitnehmer ihre Einzahlungen automatisch vom Gehalt abziehen. Das Geld soll vor allem in Aktien angelegt werden. Private Fondsmanager sollen das Geld dann schrittweise in risikoärmere Anlagen umschichten.
Bringt Politik den Mut auf?
Die Krux an all diesen Vorschlägen: Die Aktienkultur ist bei den Deutschen, die selbst in Nullzinsphasen aufs Sparbuch setzen, von Angst und Unwissen geprägt. Zudem würde die Verantwortung zur Vorsorge vom Bürger auf den Staat beziehungsweise Fondsmanager weitergeschoben. Welchen Anreiz hätten Bürger also, selbst vorzusorgen? Die Versicherungswirtschaft warnt zudem vor einer Wettbewerbsverzerrung. MIT-Chef Linnemann zeigt sich zwar offen dafür, Vorschläge wie den Bürgerfonds zu prüfen. Übergeordnetes Ziel müsse es aber weiterhin sein, mehr Anreize zur privaten Vorsorge zu setzen und bürokratische Hürden abzubauen. Die MIT schlägt deshalb eine umfassende Reform der privaten Zulagenrente („Riester“) vor. Die Möglichkeit einer Zulagenrente soll dazu auf alle steuerpflichtigen Erwerbstätigen ausgeweitet werden, also auch auf Selbstständige und Freiberufler. Die Gewährung der Zulagen soll vollständig automatisiert über die Finanzverwaltung erfolgen. Der bisherige komplizierte und fehleranfällige Zulagenantrag würde damit entfallen. Welche Vorschläge die Rentenkommission letztlich aufgreift – und ob sie überhaupt ein mutiges Gesamtkonzept vorlegen wird –, bleibt fraglich. Ökonom Raffelhüschen sieht das Problem weniger in der Rentenkommission, sondern vielmehr in der Politik insgesamt. Denn wenn das Expertengremium
der Bundesregierung im Frühjahr 2020 ihren Abschlussbericht auf den Tisch legt, ist die nächste Bundestagswahl nicht weit. „Dass die Politik dann den Mut aufbringt, richtige, aber unpopuläre Weichenstellungen auch umzusetzen, ist wenig wahrscheinlich bis ausgeschlossen – und wenn die Rente im Wahlkampf gelandet ist, wurde es bis jetzt immer teuer.“
Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin, Ausgabe 3-2019
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