1. Die EU überschreitet ihre Kompetenzen in der Sozialpolitik
Die Kompetenzen der EU sind durch Art. 153 AEUV klar abgesteckt. Danach ist es die Aufgabe der EU, die Mitgliedstaaten in ihrer nationalen Sozialpolitik zu unterstützen und zu ergänzen – unter Ausschluss einer Harmonisierung in bestimmten Bereichen und unter dem Vorbehalt, dass die EU-Aktivitäten der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) nicht entgegenstehen dürfen. Die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihrer sozialen Sicherheitssysteme selbst festzulegen, wird ebenfalls ausdrücklich anerkannt. Darüber hinaus enthält Art. 153 AEUV auch klare Kompetenzausschlüsse: Die EU hat nach Absatz 5 keine Kompetenzen zum Arbeitsentgelt, dem Koalitionsrecht, dem Streikrecht sowie zum Aussperrungsrecht. Bestimmte weitere Bereiche unterliegen zudem zurecht der Einstimmigkeit im Rat.
Leider gibt es in der EU immer wieder Vorstöße, die diesen vertragsrechtlichen Bestimmungen entgegenlaufen. So enthält die 2017 verabschiedete „Europäische Säule sozialer Rechte“ (ESSR) 20 soziale Grundprinzipien ohne Zuordnung der zuständigen Ebene, was der klaren Kompetenzaufteilung nach Art. 153 AEUV widerspricht. Auch wenn die ESSR einen rein deklaratorischen Charakter hat, bezieht sich die Kommission seitdem bei jedem ihrer sozialpolitischen Gesetzgebungsvorschläge darauf und zieht sie verstärkt als Legitimationsgrundlage für sozialpolitische Aktivitäten heran. Das lehnen wir insgesamt ab.
2. Kompetenzüberschreitungen führen zu Parallelregulierungen auf europäischer und nationaler Ebene und zu unnötiger Bürokratie.
Die Kompetenzverwischungen haben konkrete Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Durch die zunehmend sehr weit ausgelegten Kompetenzen kommt es immer häufiger zu parallelen Gesetzgebungsverfahren auf nationaler und europäischer Ebene. Dies hat zur Folge, dass Unternehmen ihre internen Verfahren im Zweifel bereits nach wenigen Jahren umstellen müssen, da nationale Regelungen von europäischen abgelöst werden. Dies führt außerdem zu einer Doppelung der Bürokratie für Bürger und Unternehmen. Ein Beispiel ist das Lieferkettengesetz.
3. EU-Bestrebungen zur Vereinheitlichung in der Sozialpolitik in der EU gefährden bewährte nationale Systeme.
Die Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten sind historisch gewachsen und weisen entsprechend erhebliche Unterschiede auf. Versuche der Kommission, diesen Systemen europaweit einheitliche Vorgaben oder Rechtsbegriffe vorzugeben, widersprechen nicht nur dem Harmonisierungsschranken nach Art. 153 AEUV, sondern führen auch zu Verwerfungen auf nationaler Ebene.
4. Die EU fördert keine praktikablen und unternehmensnahen Lösungen.
In zahlreichen Fällen würden die europäische Wirtschaft und Arbeitskräfte von einheitlichen Vorgaben im Binnenmarkt profitieren und fordern entsprechende Lösungen aktiv ein. Leider zeigt sich die EU in vielen dieser Fragen uneins, praktikable Lösungen zu finden. Ein Beispiel sind die Vorschriften zur A1-Bescheinigung bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten, die Einsätze im EU-Ausland erschweren und nicht erleichtern.
Fazit: EU-Sozialpolitik und Gesetzgebung muss sich auf Kernaufgabe zurück besinnen
Eine Rückbesinnung der EU auf ihre Kernaufgabe in der Sozialpolitik, die Unterstützung und Ergänzung der Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld, ist dringend notwendig. Der aktuelle Trend, wonach die EU immer häufiger parallel zur nationalen Sozialpolitik steht und diese aufgrund der Normenhierarchie verdrängt, statt sie zu ergänzen, muss gestoppt werden. Übertritt die EU diesen Rahmen, müssen auch die nationalen Parlamente konsequent von ihrem Recht der Subsidiaritätsrüge Gebrauch machen. Dies gilt auch für den Bundestag und den Bundesrat: Wann immer europäische Regelungen vorgeschlagen werden, obwohl funktionierende nationale Regelungen bestehen, sollten beide Kammern eine Subsidiaritätsrüge erheben. Falls die Subsidiaritätsrüge keine Mehrheit im Parlament bekommt, sollte sich die Bundesregierung im EU-Gesetzgebungsverfahren zumindest für weitgehende Ausnahmen einsetzen, damit kein nationaler Umsetzungsbedarf entsteht.
Weiterhin sollte sich die EU in der Sozialpolitik viel stärker auf Gesetzgebung beschränken, die einen klaren europäischen Mehrwert bieten, statt mit den Mitgliedstaaten in einen ungesunden legislativen Wettbewerb bis in die letzten Verästelungen des Sozial- und Arbeitsrechts zu treten. Gerade die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes bieten hier weiterhin zahlreiche Möglichkeiten. Insbesondere die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung ist weiterhin mit teilweise absurden bürokratischen Vorgaben verbunden, die auf europäischer Ebene dringend angegangen werden müssen.
Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas wurden gerade im Bereich Soziales viele ambitionierte Vorschläge vorgelegt. Nach Einschätzung der EU-Kommission und des Rates der EU lassen sich aber viele Vorschläge der Konferenz im Rahmen der geltenden Verträge umsetzen – eine Vertragsänderung ist kein Selbstzweck. Die EU-Verträge haben eine angemessene Balance zwischen den Kompetenzen der Mitgliedstaaten und der EU sichergestellt. Diese sensible Balance darf nicht durch eine unbedachte Vertragsänderung, deren Auswirkungen unvorhersehbar sind, in Gefahr geraten.
Alle EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und Bürgerinnen und Bürger müssen sich die Frage stellen, welche Aufgaben die EU erfüllen soll und kann, und welche nicht. Die EU ist ein weltweit einzigartiger Wirtschafts-, Sicherheits- und Rechtsraum. Die schleichende Umgestaltung der EU-Institutionen zu einem sozialpolitischen Akteur lehnen wir ab.
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