MINISTERPRÄSIDENT BORIS RHEIN IM EXKLUSIV-INTERVIEW

Datum des Artikels 18.09.2023
MittelstandsMagazin

Ministerpräsident Boris Rhein sprach mit Chefredakteur Fabian Wendenburg über seine Pläne für den Finanzstandort Frankfurt, den Wahlkampf gegen Nancy Faeser und eine Reform des Länderfinanzausgleichs.

Fabian Wendenburg: Herr Ministerpräsident Rhein, Sie sind seit langem MIT-Mitglied und waren
MIT-Vorsitzender in Frankfurt. Wieviel MIT steckt in der hessischen Landesregierung?

Boris Rhein: Eine ganze Menge, denn der Mittelstand ist der Motor unserer Wirtschaft, das ist uns als CDU- geführter Landesregierung sehr bewusst und fließt in unsere tägliche Arbeit ein. Zum Beispiel haben wir mit einem 200 Mio. Euro schweren Hilfsprogramm „Hessen steht zusammen“ auch vielen großen und kleinen Un- ternehmen mit Energie-Mikrodarlehen und Bürg- schaftsprogrammen mit den schwierigen Folgen der Pandemie und des verbrecherischen Krieges gegen die Ukraine geholfen.

In Hessen wurde 2014 die erste schwarz-grüne Regierung in einem Flächenland gebildet. Wie ist die Bilanz der schwarz-grünen Zusammenarbeit? Ist dies ein Modell auch für die Zukunft?
Wir arbeiten in Hessen konstruktiv und verlässlich mit den Grünen zusammen. Damit sind wir das Gegenmo- dell zur Streit-Ampel auf Bundesebene. Die haben Cha- os und Streit, wir haben Kurs und Stabilität. Für eine Koalitionsaussage ist es gleichwohl zu früh. Wir kämp- fen alle gemeinsam dafür, dass die Hessen-CDU in der Landtagswahl am 8. Oktober so stark wie möglich wird: An uns vorbei darf keine Regierung gebildet werden. Wir wollen auch nach der Wahl so viel CDU wie möglich für unser Bundesland.

In Hessen liegt mit Frankfurt eine Finanzmetropole, zugleich umfasst der ländliche Raum rund 80 Prozent der Fläche Hessens. Wie kann eine Volkspartei für Stadt und Land gleichermaßen attraktiv bleiben?
Indem wir gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen. Im Jahr 2017 hat die hessische Landesregierung die Of- fensive „Land hat Zukunft – Heimat Hessen“ gestartet, die mit dem Aktionsplan „Starkes Land – gutes Leben“ fortgeschrieben wurde. Diese Initiativen leisten einen großen Beitrag zur Lebensqualität in den ländlichen Räumen und stärken zugleich den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Menschen in Hessen sollen überall eine gute Lebensperspektive haben. Gleichwertigkeit ist dabei nicht mit Gleichheit zu verwechseln. Für die unterschiedlichen Räume gilt es, gleichwertige Pers- pektiven und Lösungen zu finden. Meine Vision für2035: Die Menschen können in ganz Hessen uneinge- schränkt dort leben, wo sie möchten – und nicht dort, wo sie müssen, um Arbeit zu finden oder eine Ausbil dung zu machen.

Inwiefern prägen die ländliche Rau- me Ihre Politik, etwa bei Mobilität, Wohnen und Energie?
Wir wollen den Menschen in allen Tei- len Hessens gleichermaßen gute Pers- pektiven und gleichwertige Lebensbe- dingungen bieten. Der ländliche Raum ist ein Zukunftsraum. Laut einer neu- en Studie vom Berlin-Institut für Be- völkerung und Entwicklung, die von der hessischen Landesregierung in Auftrag gegeben wurde, wollen immer mehr Hessinnen und Hessen auf dem Land leben. Hessen zählt knapp 2 200 Dörfer in mehr als 400 Kommunen. Mehr als die Hälfte der hessischen Be- völkerung lebt auf dem Land. Um den ländlichen Raum zu stärken, werden wir weiterhin leistungsfähige Netze bauen – eine stabile Internetverbin- dung sowie schneller Datenaustausch sind dabei außerordentlich wichtig. Eine gute Gesundheitsversorgung darf ebenfalls keine Frage der Postleit- zahl sein, genauso wenig wie ein leis- tungsfähiger ÖPNV. Wir als CDU wol- len außerdem auch ein eigenes Minis- terium für Land- und Forstwirtschaft schaffen, um den besonderen Heraus- forderungen der ländlichen Räume zu begegnen.

Der Brexit ist seit über drei Jahren vollzogen. Welche Auswirkungen hatte der Brexit auf den Finanz- standort Frankfurt, und wie steht der Standort heute da?
Wir in Hessen sind schon am Tag nach dem Referendum mit einer eigenen Internetseite und Informationen zumStandort und den jeweiligen Ansprechpartnern online gegangen. Es gab eine außerdem Brexit-Arbeitsgruppe, be- stehend aus dem Wirtschafts-, Finanz- und dem Europa- Ministerium. Sie hat dabei geholfen, hessische Unterneh- men sicher durch diesen Prozess zu begleiten. Das ist uns gut gelungen. Der Finanzstandort Frankfurt steht heute hervorragend da. Jetzt wollen wir in einem nächsten Schritt die AMLA, die geplante Anti-Geldwäschebehörde der EU, nach Frankfurt holen. Hier gibt es nicht nur eine hohe Dichte an Finanzinstituten und Aufsichtsbehörden, sondern auch zahlreiche hochmoderne und nachhaltig zertifizierte Büroimmobilien und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Dass Frankfurt mit seinem Flughafen mitten in Europa außer- dem bestens erreichbar ist, kommt noch hinzu.


Für Schlagzeilen hat im Frühjahr der hessische Weltmarktführer Viessmann gesorgt, der seine Klimasparte einschließlich der Wärmepumpen an das US-Unter- nehmen Carrier Global verkauft hat. Die einen sehen dies als Reak- tion auf die Politik der Ampel, die anderen als Ausdruck dafür, dass Investitionen in deutsche Unternehmen attraktiv sind. Wie bewerten Sie diesen Schritt, und was sollten wir mit Blick auf unseren Standort daraus ableiten?
Eine Übernahme in dieser Größenordnung zeigt, wie groß die Dynamik im Heizungs- und insbesondere im Wär- mepumpensektor ist. Der Markt regenerativer Heiztechnik ist international, Hessen spielt mit seinen Weltmarktführern in dieser Liga ganz vorne mit. Viessmann hat sich längst erfolgreich auf den Weg der Transformation begeben, die Sparte nachhaltiger Hei- zungen stark ausgebaut und ein sehr erfolgreiches Jahr 2022 hinter sich. Das macht das Familienunternehmen international attraktiv. Die Chancen in einem weltweit wachsenden Markt sind groß, aber der Investitionsbedarf ffür die Transformation ist gleichzeitig sehr hoch. Selbstverständlich muss sich ein Unternehmen, das global tätig ist, zukunftsfest aufstellen, um weiter wachsen zu können. Hessen ist des- halb ein zukunftsfähiger, starker Wirtchaftsstandort. Wir stehen für Hightech bei Wirtschaft und Innovation.

Konkret nachgefragt: Welche Standortbedingungen muss Deutschland verbessern, und wo können die Länder Treiber und Vor- reiter sein?
Der Standort Hessen wird in Zukunft nur erfolgreich bleiben, wenn Verwal- tungsverfahren weiter entbürokrati- siert und beschleunigt werden, ohne dass dadurch die Qualität der Verwal- tungsentscheidungen leidet. Mit einer eigenen Kommission wollen wir des- halb alle Aufgaben der Verwaltung kritisch prüfen. Durch ein neues Zu- kunftskonzept „Made in Hessen” wol- len wir noch stärker um qualifizierte Arbeitskräfte, Neuansiedlungen von Unternehmen und ausländische Di- rektinvestitionen werben. Dazu gehört, den Dialog mit der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Gesellschaft fortzusetzen und den Start-up-Standort Hessen durch Vernetzung und neue Finanzierungsmöglichkeiten in der Gründungs- und Wachstumsphase sowie in der Innovationsfinanzierung zu unterstützen. Hessen ist aber auch ein starkes Industrieland. Wir stehen dafür,
dass unsere Industrie Heimat und Zukunft hat. Deshalb sind wir als Land in allen Bereichen breit aufgestellt, um Standortsicherheit zu bieten und Hessen auf Wachstumskurs zu halten.

Müsste Deutschland in Ergänzung zur Standort- politik aus Ihrer Sicht auch eine aktivere Industriepolitik machen, etwa durch die strategische Ansiedlung von Unternehmen?
Ich bin sehr dankbar für unseren starken Industrie- standort. Für weitere strategische Ansiedlungen ist eine funktionierende Infrastruktur mit gut ausgebauten Verkehrswegen eine wichtige Voraussetzung. Mit unserer Hessenstrategie Mobilität 2035 setzen wir zum Beispiel Maßstäbe für ein digital vernetztes, klimascho- nendes und leistungsfähiges Verkehrssystem. Unser Ziel ist es, ein klimaneutrales Industrieland zu werden. Dazu brauchen wir die Innovationskraft unserer Unter- nehmen und eine 360-Grad-Technologieoffenheit. Wir wollen Ökonomie und Ökologie sozialverträglich verei- nen, damit die wirtschaftlichen Prozesse in den nächsten Jahren weitgehend klimaneutral, digitalisiert und ressourcenschonend werden.

Sie schlagen vor, den „kostenlosen Meister“ einzuführen, also Ausbil- dungskosten zu übernehmen. Was kann noch getan werden, um dem Mangel an Facharbeitskräften entgegenzuwirken?
Ohne eine ausreichende Zahl qualifi- zierter Fachkräfte kann die hessische Wirtschaft ihr Potenzial und ihre Chancen nicht ausschöpfen. Ziel ist es daher, wieder mehr junge Menschen für eine duale Ausbildung zu gewin- nen: mit einer Ausbildungsinitiative und außerschulischer Berufsorientie- rung. Gemeinsam mit den Partnern aus dem „Bündnis Ausbildung Hes- sen“ und dem „Neuen Bündnis Fach- kräftesicherung Hessen“ leisten wir durch eine Vielzahl an Projekten unse- ren Beitrag zur Fachkräftesicherung. Aber auch die Fachkräfteoffensive „Erzieherinnen und Erzieher“ werden wir fortsetzen und intensivieren und den Quereinstieg in den Beruf zur Erzieherin und zum Erzieher einfacher machen. Das neue Interesse am Landleben kann den Trend hin zu einer alternden Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten bremsen, denn unter den Menschen, die zu- ziehen, ist fast jeder und jede Zweite jünger als 30 Jahre. Mehr Menschen im Erwerbsalter können für mehr lokale Nachfrage sorgen und den Fachkräftemangel mildern.

Sie haben es im Wahlkampf dezidiert abgelehnt, qualifizierte Zuwanderung mit Asyl und Migration zu vermischen. Wird diese Frage ein Wahlkampfthema in der Auseinandersetzung mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser?
In dieser Frage haben Nancy Faeser und ich zwei klare Auf- gabenverteilungen. Ich bin Ministerpräsident des Landes Hessen, ich stehe mit beiden Beinen fest in unserem Land und fungiere damit quasi als Anwalt der Kommunen. Des- halb haben die Regierungschefinnen und Regierungschefs in den jüngsten Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Bundesregierung um eine faire, dauerhafte und verlässliche Finanzierung der Flüchtlingskosten und eine bessere Steuerung und Begrenzung der Migration gerungen. Nancy Faeser hingegen ist Bundesinnenministerin in Berlin und damit verantwortlich für all das, was besser werden muss in dieser Frage. Für mich ist das deshalb kein Wahlkampfthema, sondern eine dauerhafte und wichtige Aufgabe für unser Land. Im vergangenen Jahr hat das Land Hessen rund 800 Millionen Euro an die Kommunen überwiesen – davon waren 500 Millionen Euro vom Land und lediglich 300 Millionen Euro vom Bund. Das zeigt, dass das Land seinen Städten, Gemeinden und Landkreisen zuverlässig zur Seite steht. Ich werde mich selbstverständlich weiter für Pla- nungssicherheit unserer Landkreise und Kommunen einsetzen und gleichzeitig für mehr Konsequenz gegenüber irregulärer Migration.

Sie fordern eine Reform des Länderfinanzausgleichs. Wie könnte diese Reform aussehen, und gibt es dazu bereits Abstimmungen mit anderen Ländern?
Wir wollen eine Reform des Länderfinanzausgleichs nach dem Prinzip „Nicht abschaffen, aber reformieren“. Hessen hat in mehr als 70 Jahren des Länderfinanzausgleichs nicht einen einzigen Euro erhalten, aber gut 60 Milliarden Euro eingezahlt. Gleichzeitig haben viele Nehmerländer ihrer Bevölkerung Leistungen ermöglicht, auf die die Bürgerinnen und Bürger in Hessen verzichten mussten, weil wir das Steuergeld zusammengehalten und sparsam gewirtschaf- tet haben. Wir erwarten deshalb eine neue Gerechtigkeit beim Länderfinanzausgleich, der Solidarität mit Stabilität verbindet. Wer Geld aus dem Länderfinanzausgleich be- kommt, muss damit so in seine Strukturen investieren, dass er irgendwann auch ein Geberland werden kann – so, wie es Bayern geschafft hat. Hilfe kann es nur gegen Reformen geben und nicht als Freischein für Wahlgeschenke.

Lieber Herr Rhein, ich bedanke mich
für dieses Gespräch. •