Carsten Linnemann im Porträt: Der Chefsvolkswirt der Union

Datum des Artikels 09.12.2021
MittelstandsMagazin

Er ist das ordnungspolitische Gewissen der Union: Acht Jahre führte Carsten Linnemann die Mittelstandsunion. Nun will der 44-Jährige sich breiter aufstellen. Für die MIT ein Verlust, für die CDU eine Chance.

Wer Carsten Linnemann kennenlernen will, muss ihn beim Libori besuchen. Das fünftägige Volksfest ist der Höhepunkt im Jahreskalender von Paderborn, der Heimat Linnemanns. Im Bundestagswahlkreis 137, Paderborn, wird der 44-jährige CDU-Mann seit 2009 direkt gewählt, dreimal hintereinander mit dem jeweils landesweit besten Ergebnis aller Direktkandidaten (zwischen 48 und 55 Prozent).

Linnemann ist hier der politische Volkstribun. Und beim Libori trifft der Abgeordnete im Biergarten Auffenberg jedes Jahr (zumindest bis zur Pandemie) die alten Kumpels aus den Studientagen wieder. Dann ist die Politik weit weg und Linnemann nur der Carsten. Wer sich bei den früheren Weggefährten umhört und nach hervorstechenden Eigenschaften des Abgeordneten fragt, hört Begriffe wie „bodenständig“, „verlässlich“, „bescheiden“. Der Prototyp des Ostwestfalen, möchte man meinen. Dazu passt, dass der Bundestagsabgeordnete seine Rednerhonorare gerne für seinen Verein Lebenslauf spenden lässt, der sozial benachteiligte Jugendliche fördert. In Zeiten von Maskendeals bei manchen Unionsabgeordneten ist das durchaus bemerkenswert.

Linnemann pflegt das Image des Anti-Politikers zum Anfassen, aber natürlich gehört er längst selbst zum Establishment. Seit acht Jahren ist er Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, dem parteipolitisch größten Wirtschaftsverband im Land. Linnemann ist Mitglied im Bundesvorstand der CDU und Vizechef der Bundestagsfraktion von CDU/CSU. Ein Grund seiner Popularität an der Basis dürfte sein, dass Linnemann im Gegensatz zu manch anderem in der NRW-CDU das eigene Fortkommen nicht als übergeordnetes Ziel der politischen Arbeit sieht. Im Gegenteil: Mehrfach steckte er zugunsten anderer zurück. 2014 und 2017 unterstützte er Jens Spahn für einen Posten im CDU-Präsidium und später im Kabinett. In dem Wettstreit um den CDU-Vorsitz stellte sich Linnemann in den Dienst von Friedrich Merz. Auch jetzt tut er das. „Ich bin nicht so wie die“, sagte er unlängst einem Parteifreund. Linnemann meinte den unerbittlichen Ehrgeiz, es ganz nach oben schaffen zu müssen.

„Ich komme von der Sache her“, versprach Linnemann 2013 zum Amtsantritt als neuer Chef der MIT. Fair im Ton, konsequent im Verfolgen seiner Anliegen, das war sein Motto. So blieb die MIT im Kanzleramt und im Sozialflügel ein anerkannter Gesprächspartner. Zwar kritisierte auch Linnemann öffentlich Maßnahmen der Großen Koalition, etwa die Griechenland-Hilfen, die Rente mit 63 oder die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes. Doch der „letzte Ordoliberale im Bundestag“ (so der frühere Wirtschaftsweise Lars Feld) eckte stets nur inhaltlich an; er wurde nie persönlich. „Mit Carsten Linnemann kann ich mich inhaltlich fetzen wie in einer Boxbude auf der Kirmes“, sagt Dennis Radtke, CDU-Europaabgeordneter und Vizechef des CDU Sozialflügels CDA. „Das Schöne aber ist: Du weißt vorher, dass die Zähne anschließend noch drin sind, denn es geht bei ihm nie auf die persönliche Ebene, sondern immer um die Sache.“

In einer Jamaika-Koalition wäre Linnemann vielleicht Arbeitsminister geworden. Armin Laschet hatte mit der Idee geliebäugelt, sollten die Grünen das Wirtschaftsministerium beanspruchen. Laschet hätte Linnemann Merz vorgezogen. Angeblich hätte die einflussreiche IG Metall sogar ihr Okay gegeben, der Chef der CDU-Sozialausschüsse, Karl-Josef Laumann, tat es. Die beiden können gut miteinander. Auch die CDU in der Opposition kann einen wie Linnemann gut gebrauchen. Vielleicht gerade die. Opposition muss kein Mist sein, wenn man sie für eine Rundumsanierung nutzt. Nach 16 von Krisen und Kompromissen geprägten Regierungsjahren braucht die Partei ein programmatisches Update. Identitätspolitik in eigener Sache.

Carsten Linnemann war stets mehr als „nur“ ein Wirtschaftspolitiker. Der Volkswirt hat nicht nur eine Vorstellung davon, wie eine Volkswirtschaft resilienter wird, sondern auch die Gesellschaft. Die Stärkung der Familien, ein verpflichtendes Dienstjahr für Schulabgänger, ein funktionsfähiger Rechtsstaat, der das Asylrecht durchsetzt und zugleich die Talente und die Tatkraft von Zuwanderern anerkennt und sie zum Bleiben animiert – nur drei Elemente aus Linnemanns gesellschaftspolitischem Werkzeugkasten.

Für den früheren Assistenten des legendären Chefvolkswirts der Deutschen Bank, Professor Norbert Walter, sind ein freier Markt und ein starker Staat kein Widerspruch. Fördern und Fordern, das in der SPD vergessene Prinzip, wird bei Linnemann in Ehren bewahrt. Die christliche Soziallehre, das von Solidarität und Subsidiarität, ist sein Wertefundament. Übersetzt auf die Rentenpolitik heißt das in etwa: „Wenn wir älter werden, müssen wir die Finanzierung klären. Wir brauchen eine Koppelung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung. Aber für jene, die nicht länger arbeiten können, braucht es Solidarität.“ Statt einer Garantie-Rente plädiert Linnemann für mehr Eigenverantwortung bei der Vorsorge, aber auch eine höhere Erwerbsminderungsrente.

Linnemann gehört zur selten gewordenen Spezies der Klartext-Politiker. Mit rhetorischem Genuss fordert er eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das Ende der Verbeamtung für Lehrer oder warnt vor Naivität in der Flüchtlingsfrage. Als der damalige Daimler-Chef Dieter Zetsche 2015 schwärmte, die Flüchtlinge könnten ein neues Wirtschaftswunder bringen, kritisierte Linnemann die Vermischung von humanitärem Asylrecht mit der Fachkräftezuwanderung: „Kein Land der Welt ist in der Lage, auf Dauer einen Zustrom von Menschen zu verkraften, die die Landessprache nicht sprechen, ein deutlich niedrigeres Qualifikationsniveau und einen völlig anderen soziokulturellen Hintergrund haben.“

Im Sommer 2019 sorgten Äußerungen Linnemanns bundesweit für Entrüstung: „Ein Kind, dass kaum Deutsch spricht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, sagte er in einem Interview. Heute sind sich Kultusminister und Experten einig, dass Sprachförderung bei den Kleinsten unverzichtbar ist. „Sprachliche Defizite werden nicht in den ersten vier Jahren ausgeglichen“, sagt die Bildungsforscherin Nele McElvany, die an der TU Dortmund die IGLU-Studie zu Lesekompetenzen bei Grundschülern leitet.

Die CDU, so lautet Linnemanns Erkenntnis aus der Wahlschlappe, müsse sich wieder trauen, Kante zu zeigen. „Wir müssen vier oder fünf zentrale Positionen beschließen und diese auch durchhalten, wenn es unbequem wird.“ Dazu gehöre eine Staatsreform. Die Pandemie habe teilweise ein eklatantes Staatsversagen offenbart, sagt er. „Da stehen Faxgeräte in den Ämtern. Wir haben es nicht gebacken bekommen, Luftfilter in Schulen zu organisieren, geschweige denn Digital-Unterricht. Das ist irre!“ Der MIT-Vorsitzende Linnemann, der dreimal mit 98-Prozent plus-x-Ergebnissen wiedergewählt wurde, hinterlässt seinen Verband gut bestellt.

Einer der großen Erfolge seiner Amtszeit ist die Flexi-Rente, mit der längeres Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver wurde und damit ein Signal gesetzt wurde, dass Arbeiten eben nicht nur Last, sondern auch Erfüllung bedeuten kann. Eine halbe Million Menschen profitieren heute von dem Gesetz. Auch die schrittweise Abschaffung der kalten Progression, das steuerpolitische Ärgernis der Leistungsträger, wenn bei steigenden Preisen und Löhnen die Steuerbelastung überproportional steigt, konnte die MIT durchsetzen. Der Sohn eines Buchhändler-Ehepaares, der selbst eine lupenreine akademische Karriere hinlegte und an der TU Chemnitz in Volkswirtschaftslehre promovierte, setzte sich aber auch für die berufliche Bildung ein und half, dass heute in zwölf Handwerksberufen wieder die Meisterpflicht gilt.

„Carsten Linnemann und sein Team haben die MIT aus dem Dornröschenschlaf geholt und zur erfolgreichsten Gliederung in der CDU gemacht",  bilanziert Jana Schimke, die Bundestagsabgeordnete und Vize-Chefin der MIT. „Unsere Positionen finden sich in der programmatischen Agenda der Union, aber auch auf dem Wunschzettel unserer Wähler wieder.“ Den eigenen Verband hat Linnemann mit Unterstützung von Hauptgeschäftsführer Thorsten Alsleben runderneuert. Frisches Logo, neuer Name, neue Homepage, Online-Formate, Newsletter und eine Veranstaltungs-App. Ergebnis: Erstmals seit Jahrzehnten steigt die Mitgliederzahl wieder.

Für Linnemann ist der Abschied und der Aufstieg in die CDU-Führung die logische Weiterentwicklung. Und die CDU bekommt einen Mann, der jenseits des Fachlichen die laut Max Weber zentrale Eigenschaft für einen Politiker besitzt: Leidenschaft. „Ich habe richtig Bock auf Erneuerung“, sagt Linnemann. Als Leiter der Grundsatzabteilung will er die Landesverbände bereisen, Diskussionsforen moderieren und die Partei zur Modernisierung regelrecht antreiben. Dass Linnemann seinen Chefposten beim Wirtschaftsflügel zur Verfügung stellt, ohne die Gewissheit zu haben, dass er als Parteivize gewählt wird, passt zu dem Paderborner. Eine politische Absicherung ist nicht sein Ding. Außerdem: Man könne ja nicht eine Amtszeitbegrenzung für den Kanzler oder die Kanzlerin fordern, aber dann am eigenen Posten kleben, sagt er. Alles habe seine Zeit. Die von Carsten Linnemann hat gerade erst begonnen.

Michael Bröcker ist Chefredakteur des Nachrichten- und Audioportals „The Pioneer“ von Gabor Steingart. Davor war der Diplom-Volkswirt Chefredakteur der Rheinischen Post.

Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin, Ausgabe 6-2021